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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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im Wald hab ich plötzlich nicht mehr gewußt, wo ich herkam, wo ich hinging.
    May trinkt und lauscht, wie Klara und Kafka atmen.
    Manchmal kommt es ihm vor, als ob sie gemeinsam den Atem anhielten.
    Himmelherrgott, er hat es sich ja gedacht, daß es einmal passieren muß … Aber muß es denn ausgerechnet hier und jetzt sein und ausgerechnet mit diesem – Judenbengel?
    Nein, das kommt ihm natürlich nicht über die Lippen.
    Das bleibt ungesagt, obwohl es ihm auf der Zunge liegt und ekelhaft schmeckt.
    Vielleicht mißdeutet er ja etwas, vielleicht sieht und vor allem hört er etwas im Dunkeln, das er sich nur einbildet.
    Aber er hat weder den Mut noch die Rücksichtslosigkeit, wieder Licht zu machen.
    May trinkt und redet, als ob das was nützen würde.
    Als ob man was zuschütten oder zureden könnte.
    Also die Uhr, die er sich über die Weihnachtsfeiertage geborgt hatte.
    Geborgt? sagte der Gendarm. Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen.
    Konnte er nicht. Der Gendarm ließ ihn nicht einmal mehr nach Hause gehen.
    Am zweiten Weihnachtsfeiertag war das. Im Wirtshaus Zu DEN DREI S CHWANEN .
    Carl Friedrich May, ein junger Mann, der etwas darzustellen versucht, beim Billardspielen.
    Die Jacke hatte er abgelegt. Aus der Westentasche hing die beinahe echt aussehende Uhrkette in einem eleganten Bogen.
    Er mußte auch alle anderen Taschen leeren.
    Zum Vorschein kamen unter anderem eine Cigarrenspitze sowie eine Anbeißpfeife, beide ebenfalls aus dem Besitz des Buchhalters.
    Er konnte keine vernünftige Erklärung darüber abgeben, wie er zu diesen Gegenständen gekommen war.
    Um den Billardtisch hatte sich ein Kreis von Zuschauern gebildet, die nach und nach zu lachen anfingen.
    Das kannst du deiner Großmutter erzählen, Karl, ja, deiner Großmutter.
    Hätte er bloß gekonnt. Sie hätte ihn verstanden. Sie hatte ihn immer verstanden. Paß auf, Karlchen, ich erzähl dir ein Märchen. Da war einmal ein armer Wanderbursch, der sich, kaum hatte er zwei Schritte in die Welt hinaus getan, auch schon verirrt hatte.
    May trinkt. Er erinnert sich an die groben Schuhe des Gendarmen, von denen schmutziger Schnee rann.
    So wie er das sieht, muß er die Augen gesenkt haben.
    In seiner Erinnerung wird noch immer gelacht.
    Also kommen Sie, May, sagt der Gendarm, machen Sie keine Umstände.
    Sechs Wochen Knast. An sich keine große Sache. Aber mit Folgen, mit unabsehbaren Folgen. Der wegen eines zum Nachteil seines Amtsgenossen verübten Diebstahls etc. etc. und trotz seines Leugnens für überführt erachtetete Carl Friedrich May … ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes … wird – eine Berufung gegen diesen Bescheid ist nicht möglich – aus der Liste der Lehramtskandidaten gestrichen.
    Sechs Wochen Knast, an sich keine große Affäre. Aber mit dem Gefängnis hat es eine ähnliche Bewandtnis wie mit der Wüste oder der Prärie, wer einmal dort war, hat eine fatale Tendenz, dorthin zurückzukehren. Also
kehrte er
dorthin zurück: also kehrten
sie
dorthin zurück: Ali Baba & die vierzig Räuber. Er und die vielen anderen, die er in sich vorfand.
    Zum Beispiel der Augenarzt Dr. Heilig, der am 9. 4. 1864 in Penig auftauchte. Im dortigen Gasthaus abgestiegen, begab er sich zu einem Schneidermeister und ließ sich Kleider im Wert von 39 Thalern, 9 Neugroschen anmessen. Acht Tage später, als er sie abholte, schrieb er einem im selben Haus wohnenden jungen Mann mit Bindehautentzündung noch ein Rezept. Und dann, unter dem Vorwand, rasch ein Instrument behufs weiterer Untersuchung aus dem Gasthof zu holen, verschwand er unter Mitnahme der unbezahlten Kleidungsstücke.
    Oder der Seminarlehrer Lohse, der am 19. 12. desselben Jahres einen Kürschner in Chemnitz besuchte. Im Auftrag seines Directors, wie er behauptete, der im Hotel Z UM A NKER mit einer Grippe darniederlag. Ein Lehrling brachte eine Collektion Pelze ins Hotel, die der Herr Seminarlehrer, um sie seinem verkühlten Vorgesetzten zu zeigen, ins Nebenzimmer trug. Eine Viertelstunde später, als der Lehrling allmählich nervös wurde, saß der Monsieur, der sich derart französisch empfohlen hatte, schon im Zug.
    Nach Leipzig nämlich, wo in der Folge einige Herren auftauchten, deren Namen nicht aktenkundig sind, die sich aber ähnlicher Delikte schuldig machten. Bis schließlich – es war am 20. 3. 1865 – einer auftrat, der sich, recht einprägsam, Hermes nannte und für einen Notenstecher ausgab. Für Pelze schien auch der etwas übrig zu haben, denn bei Friedrich
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