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Herr der Welt

Herr der Welt

Titel: Herr der Welt
Autoren: Jules Verne
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Jules Verne
    Herr der Welt
    Mit 32 Illustrationen von George Roux,
    3 Illustrationen von Léon Benett
    und 1 Foto

    Titel der Originalausgabe:
    Maître du monde (Paris 1904)
    Nach zeitgenössischen Übersetzungen
    überarbeitet von Günter Jürgensmeier

    1. KAPITEL
    Was im Land vorgeht
    Die Gebirgskette, die zur amerikanischen Küste des Atlan-
    tiks parallel verläuft und sich durch North Carolina, Virgi-
    — 4 —
    nia, Maryland, durch Pennsylvania und den Staat New York
    hinzieht, führt den Namen der Alleghenies oder der Appa-
    lachenberge. Sie besteht aus zwei deutlich getrennten Hö-
    henzügen: dem der Cumberland und dem der Blue Ridge
    Mountains.
    Während dieses orographische System – übrigens das
    bedeutendste dieses Teils von Nordamerika – sich in einer
    Ausdehnung von 900 Meilen (etwa 1600 Kilometer) hin er-
    steckt, übersteigt es im Mittel nirgends die Höhe von 6000
    Fuß. Sein höchster Gipfel ist der 1918 Meter hohe Mount
    Washington.
    Das große Stück Erdenrückgrat, das mit dem einen Ende
    in das Wasser des Atlantiks, mit dem anderen in das des
    Sankt-Lorenz-Stroms eintaucht, hat auf Alpinisten bisher
    keine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Sein oberster
    Kamm reicht ja noch nicht in eigentlich hohe Schichten
    der Atmosphäre hinein; er wirkte also nicht so verlockend
    wie die stolzeren Gipfel der Alten und der Neuen Welt. Und
    doch gab es in dieser Kette einen Punkt, den kein Tourist
    hätte erreichen können, denn er schien sozusagen uner-
    steigbar zu sein.
    War dieser Punkt, der Great Eyrie, aber von den Berg-
    steigern bis jetzt außer acht gelassen worden, so sollte er
    doch bald die öffentliche Aufmerksamkeit, ja sogar eine be-
    ängstigende Unruhe erwecken, und zwar aus ganz merk-
    würdigen Ursachen, die ich am Anfang dieser Erzählung
    schildern muß.
    Wenn ich hier meine eigene Person einführe, möge das
    — 5 —
    dadurch entschuldigt werden, daß ich mit einer der außer-
    gewöhnlichsten Erscheinungen, deren Zeuge das 20. Jahr-
    hundert sein kann und sein wird, sozusagen recht eng ver-
    knüpft gewesen bin, wie sich das im weiteren zeigen wird.
    Noch manchmal frage ich mich wirklich, ob das, was meine
    Erinnerung – vielleicht wäre es richtiger zu sagen: meine
    Fantasie – mir vorgaukelt, sich überhaupt so zugetragen
    hat, wie es sich mir jetzt darstellt. Bei meiner Eigenschaft
    als Oberinspektor der Washingtoner Polizei, bei der ange-
    borenen Neugier oder Wißbegier, die in mir bis zum höchs-
    ten Grad entwickelt ist, und ferner, da ich schon seit 15 Jah-
    ren mit den verschiedensten Angelegenheiten beschäftigt
    und oft mit den heikelsten Aufträgen betraut war, für die
    ich gerade eine besondere Vorliebe habe, ist es ja nicht zu
    verwundern, daß meine Vorgesetzten mir auch diese un-
    glaubliche Aufgabe stellten, bei deren – wenigstens versuch-
    ten – Lösung ich auf die undurchdringlichsten Geheimnisse
    stoßen sollte. Für das, was ich im folgenden erzähle, muß
    ich freilich von vornherein darum bitten, daß man mir aufs
    Wort glaube.
    Für die wunderbaren Tatsachen kann ich leider kein an-
    deres Zeugnis als das meinige beibringen. Will man mir
    nicht glauben . . . auch gut . . . halte das jeder nach Belieben.
    Der Great Eyrie steigt aus der malerischen Kette der Blue
    Ridge Mountains auf, die sich im westlichen Teil von North
    Carolina erhebt. Seine rundliche Gestalt erblickt man
    schon, wenn man über den am Ufer des Catawba Rivers er-
    bauten Flecken Morganton hinauskommt, noch besser vom
    — 6 —
    Dorf Pleasant Garden aus, das dem Berg um einige Meilen
    näher liegt.
    Was ist nun eigentlich dieser Great Eyrie? Rechtfertigt
    er die Bezeichnung, die ihm die Bewohner der dem Gebiet
    der Blue Ridge Mountains benachbarten Gegend beigelegt
    haben? Es erscheint ja natürlich, daß sie ihm diesen Na-
    men gaben wegen seiner überwältigend großartigen Sil-
    houette, die unter gewissen atmosphärischen Bedingungen
    azurfarbig leuchtet. Wenn aber der Great Eyrie zu einem
    »Horst« gestempelt wurde, entsteht doch die Frage, ob auf
    ihm Raubvögel, Adler, Geier oder Kondore nisten. Ist der
    Berg denn wirklich eine Wohnstätte dieser mächtigen Seg-
    ler der Lüfte? Sieht man sie in kreischenden Gesellschaften
    um diesen Zufluchtsort herumschweben, der nur ihnen al-
    lein zugänglich ist? . . . Mitnichten; sie erscheinen hier nicht
    in größerer Zahl als auf den anderen Gipfeln der Alleghe-
    nies. Ja, im Gegenteil – und das ist hier wiederholt
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