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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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sozusagen reife Mädchenhaftigkeit, die sie ausstrahlt, anzieht? Ganz zu schweigen von ihrer leider nicht zur von der Natur vorgesehenen Anwendung gekommenen Mütterlichkeit? Dies in etwa? Also mit einem Wort, ich bin ihr in Sympathie und Dankbarkeit zugetan? Aber zu meinem Bedauern bin ich dem weiblichen Geschlecht gegenüber sehr gehemmt? Meine Beziehungen zu anständigen Frauen sind, wie kann ich es ausdrücken, eigentlich gar keine Beziehungen? Vielmehr handelt es sich in den meisten Fällen um ein, wie soll ich es nennen, bloßes Aneinandervorbeigleiten?
    Zum Beispiel so: Ich fahre in der Straßenbahn, und der Wagen nähert sich einer Haltestelle? Ein Mädchen stellt sich in die Nähe der Stufen, zum Aussteigen bereit? Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie, Verzeihung, betastet hätte? Ich bin ihr sehr nahe, aber ich sehe sie nur an und sage kein Wort? Ich kann sie noch heute ganz detailliert beschreiben? Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus kleinmaschiger Spitze? Die linke Hand hält sie flach an der Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe? Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab, sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe? Vor allem ihr kleines Ohr ist mir unvergeßlich? Es liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel? Und ich sage nichts, und sie sagt leider erst recht nichts? – Sehen Sie, könnte er sagen, solcher Art sind meine Beziehungen, ich kann mir also nicht vorstellen …
    Das könnte sich Kafka nämlich tatsächlich nicht vorstellen –: Daß es wirklich
er
gewesen sein soll, mit dem die von ihm so hochgeschätzte Frau Klara … (Der er das übrigens niemals zutrauen würde) … Also das ist doch eigentlich ganz unmöglich!
    Es sei denn, würde er sagen, ich war nicht bei mir. Es sei denn, sie war nicht bei sich, wir waren nicht bei uns. Unsere Körper waren vielleicht beieinander … Aber Ihre Gattin, verehrter Herr May, diese Seele von einer Frau, hat damit ebensowenig zu tun wie meine Wenigkeit.
    Das etwa würde er sagen, wenn May ihm zuhörte. Oder vielleicht schon, wenn May ihn wenigstens anschaute. Wenn May ihn erst anschaute und ihm dann zuhörte, ohne seinen Blick gleich wieder von ihm abzuwenden. Aber May
schaut
ihn nicht an und
hört
ihm nicht zu.
    Und wird das besser werden, wenn sie an Land sind? Das heißt, vorausgesetzt, daß man ihn überhaupt an Land
läßt?
    Ellis Island fällt ihm wieder ein, jene Einwandererstation (Einwanderendstation), an die ihn May unlängst erinnert hat. Insel der gebrochenen Herzen, Grab der Hoffnungen tausender und abertausender Auswanderer.
    (Mit zahllosen anderen sieht er sich in einem riesigen Warteraum. Den schmächtigen Oberkörper entblößt, in banger Erwartung eines Stethoskops. Zitternd vor Kälte und Scham und Nervosität. Die Schultern und Hosenträger hängen sehr traurig.)
    Also vorausgesetzt, daß er, was ohnehin sehr unwahrscheinlich ist, durch die medizinische Kontrolle kommt –: Vorausgesetzt des weiteren, daß kein Haftbefehl gegen einen aus Prag entlaufenen Aushilfsversicherungsbeamten vorliegt –: Schließlich vorausgesetzt, daß der illegale Einfuhrversuch einer, wenn auch angeschnittenen, Stange Veroneser Salami (die rechtzeitig über Bord zu werfen er aus Pietät gegenüber seiner Mutter kaum übers Herz bringt) nicht noch im letzten Moment als Grund seiner Zurückweisung entdeckt wird –: All das vorausgesetzt, stellt sich die Frage, wie er sich, endlich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, den Herrschaften May gegenüber verhalten soll.
    Soll er sich/ kann er sich einfach von ihnen verabschieden? Kann er/ darf er so tun, als wäre wirklich nichts geschehen? Handkuß der Frau Klara, kurze, respektvolle Verneigung vor ihrem Gatten? Und dann kehrt und davon, ohne noch einmal den Kopf zu wenden?
    Oder muß er um jeden Preis die Aussprache mit May suchen? Und wenn er ihm nach- beziehungsweise vorausfährt? Schön, in New York werden Burtons nur möglichst kurz bleiben. Aber wie wärs mit Albany? Wollten wir nicht in Albany Station machen?
    Fragt Frau Klara ihren Mann. Sie scheint zu ahnen, was der Herr Franz leidet.
    Das ist noch sehr ungewiß, Herzle. Vielleicht überlegen wirs uns anders.
    Aber nach Pittsfield wolltest du doch auf jeden Fall! Bestimmt hat Ihnen mein
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