Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
Wasserfall, zwei Fahrräder sind an ein Baugitter angeschlossen, darüber ein Schild, Baden ist auf dem Gelände der Gedenkstätte verboten . Ohne zu urteilen, erzählt Wolfgang von dem Verbrechen von damals und der Normalität von heute, einer Normalität, die sich in jeder Zeit ihren Raum erobert. In meinem Kopf bleiben nur Zahlen.
     
    Dreißig Nationen waren hier vertreten, jede Nation hat ihr Denkmal. Politiker, Arbeiter, Priester, hier kann ich mir das Europaparlament besser vorstellen als in Brüssel, wer im KZ war, darf auch in die EU . Fünfhundert sowjetische Offiziere unternahmen einen Fluchtversuch, die ganze Gegend machte sich auf die Jagd, Hasenjagd nannte man es, die Toten wurden an einem Ort zusammengetragen wie erlegtes Wild, keine großen Tiere, sondern kleine feige Hasen, aber was ist das schon, in meinen Notizen steht, siebenundvierzigtausend kremiert, ein merkwürdiges Wort zwischen den Zahlen, die meisten starben an Unterernährung und Krankheiten, vielleicht ist es falsch, ich meine, die Zahl ist falsch, als ob solche Zahlen richtig sein könnten, an die hunderttausend Menschen sind in Mauthausen getötet worden oder durch Arbeit zugrunde gegangen. Wenn ein Mensch um so viel größer wäre als ein Atom, wie die Sonne größer ist als ein Mensch, was wäre dann die Mitte zwischen dem Tod eines Einzelnen und dem Tod von Millionen? Wäre es eine Zahl oder der Ort, an dem ich mich nun befinde? 1 verstehe ich, 10 auch, 100 mit Mühe und 1000? Oft wurden jüdische Häftlinge aus fünfzig Metern Höhe in den Steinbruch hinabgestürzt, Fallschirmspringer nannte man sie. Genau 1000 jüdische Häftlinge sollen anlässlich des Besuchs von Heinrich Himmler im Frühling 1941 vom Felsen gestürzt worden sein, erzählte ein Häftling später. Ein Apfelbaum steht auf dem Gelände, mit verlockenden Äpfeln. Der Kommandant habe seinem Sohn zum 14. Geburtstag 14 Häftlinge geschenkt, an einem Apfelbaum im Garten des Kommandanten seien sie erhängt worden, als Baumschmuck, so heißt es. Die vierzehn ergeben mehr als die tausend,
14 > 1000, mehr wovon, mehr von etwas Unzählbarem – ist es die Art ihres Todes, oder ist 14 eine Zahl, die wir noch wahrnehmen können, und danach bricht unsere Mathematik zusammen? Bei welcher Zahl verschwindet der Mensch? 10 000 Erschossene wurden unter der Marbacher Linde begraben, drüben auf dem Berg, wenn ich mich nicht irre, wie soll ich mir das vorstellen, in meiner Schule waren wir nur 600, und in einem Stadion war ich noch nie. Wenn ich noch eine Null anhänge, muss ich anfangen, strategisch zu denken, ich stelle mir die großen Schlafbezirke vor, in den Hochhäusern auf der Insel gegenüber von meinem Kiewer Haus leben genau hunderttausend Menschen, ich bringe sie heimlich in die Todesstatistik ein, ohne sie in ihrem Schlaf zu stören, nicht für immer, nur um diese Zahl zu verstehen, und dann lasse ich sie wieder ins Leben zurück.
     
    Wir sind mit 20 Millionen Kriegstoten aufgewachsen, dann stellte sich heraus, es waren viel mehr. Durch Zahlen sind wir verwöhnt und verdorben, von der Vorstellung der Gewalt vergewaltigt, wenn man diese Zahlen versteht, akzeptiert man auch die Gewalt. Mich ergreift eine Schwermut, ich weiß nicht, warum das alles so gewöhnlich klingt, fast langweilig.
     
    Ich wollte eine Lösung finden, für mich und für diejenigen, die heute hier wohnen und arbeiten, ich wollte mich erinnern und darüber schreiben, es war aber eine Tätigkeit ohne absehbares Ende. Sisyphus wollte den Tod betrügen, und Thanatos bestrafte ihn mit nie endender Arbeit, er holte ihn aus dem Schattenreich ins Leben zurück und ver
urteilte ihn zu ewiger Beschäftigung, ewiger Mühe, ewiger Erinnerung. Sisyphus rollte seinen Stein nach oben, im Schweiße seines Angesichts, und wie das ausging, wissen wir.
     
    Es wurde darauf geachtet, dass es im Lager sauber war, die Räume und die Wege, an den Baracken wurden Blumenkästen angebracht, die Sandwege wurden mit einer Straßenwalze geglättet, denn die Welt ist schön, nur die Häftlinge waren schmutzig und krank, unwürdig für das Leben, nur für die Arbeit geschaffen, die sie vernichten sollte, wieder und wieder trugen sie Steine nach oben, Schritt für Schritt einander folgend, in dichten Reihen, wie in einer Massenszene im Film, wenn einer stolperte, riss er die anderen mit, Dutzende fielen wie Dominosteine, verletzt oder tot, und wenn einer stärker war als die Arbeit, konnte man ihn immer noch erschießen. Es gab
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher