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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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erzählte ihm alles, ohne eine Sekunde zu zögern, mit dem gleichen Schwung, als würde ich das nächste Musical verurteilen, ich erzählte von der polnischen Stadt, aus der meine Verwandten vor hundert Jahren nach Warschau und dann weiter nach Osten gezogen waren, vielleicht nur, um mir die russische Sprache zu vererben, die ich nun so großzügig niemandem weiterverschenke, dead end also und Halt, deswegen muss ich fahren, erzählte ich, dorthin, in eine der ältesten Städte Polens, wo sie, die Ahnen, von
denen man nichts weiß, wirklich, keine Ahnung, wo sie zwei, drei oder auch vier Jahrhunderte gelebt haben, vielleicht seit dem fünfzehnten Jahrhundert, als die Juden in dieser kleinen polnischen Stadt die Garantien bekommen hatten und zu Nachbarn wurden und zu den anderen. And you?, fragte Sam, und ich sagte, ich bin eher z ufällig jüdisch.
    Wir warten auch auf diesen Zug, sagte Sam nach einer kurzen Pause, auch wir fahren mit dem Warszawa-Express. Mit diesem Zug, der wie ein Vollblutpferd aussieht, wie er nun aus dem Nebel auftaucht, ein Expresszug, der sich zwar gemäß dem Fahrplan, jedoch gegen die Zeit bewegt, in die Zeit von Bombardier, for us only, dachte ich, und der alte Mann fuhr fort, seine Frau suche dasselbe, die Welt ihrer Großmutter nämlich, die aus einem kleinen weißrussischen Dorf bei Biała Podlaska in die USA gekommen sei, und doch sei es nicht seine Heimat und nicht die seiner Frau, hundert Jahre sei es her und viele Generationen, und auch die Sprache kenne von ihnen keiner mehr, aber Biała Podlaska klinge für ihn wie ein forgotten lullaby, gottweisswarum, ein Schlüssel zum Herzen, sagte er, und das Dorf heißt Janów Podlaski, und dort hätten damals fast nur Juden gewohnt und jetzt nur die anderen, und sie beide würden dorthin fahren, um sich das anzuschauen, und, er sagte tatsächlich wieder und wieder und , als stolpere er über ein Hindernis, dort sei natürlich nichts geblieben, er sagte natürlich und nichts , um die Sinnlosigkeit seiner Reise zu betonen, ich sage auch oft natürlich oder sogar naturgemäß, als ob dieses Verschwinden oder dieses Nichts natürlich oder auch selbstverständlich sei. Die Landschaft jedoch, die Namen der Orte und ein Gestüt für Araber
pferde, das seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts existiert, gegründet nach dem Napoleonischen Krieg und in Fachkreisen die erste Adresse, das alles sei noch da, erzählten sie mir, das hätten sie alles gegoogelt. Ein Pferd könne dort gut eine Million Dollar kosten, Mick Jagger habe bei einer Auktion schon Pferde aus diesem Gestüt angeschaut, sein Drummer habe drei gekauft, und nun würden sie dorthin fahren, fünf Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt, Google sei Dank. Sogar einen Pferdefriedhof gebe es dort, nein, der jüdische Friedhof sei nicht erhalten geblieben, auch das stehe im Internet.
    I'm a Jew from Teheran, sagte der alte Mann, als wir noch am Bahnsteig standen, Samuel ist mein neuer Name. Ich bin aus Teheran nach New York gekommen, sagte Sam, er könne Aramäisch, habe vieles studiert und sei immer mit seiner Geige unterwegs. In den USA hätte er eigentlich Nuklearphysik studieren sollen, habe sich jedoch beim Konservatorium angemeldet, sei bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen, und so sei er Banker geworden, und auch das sei er nicht mehr. Noch nach fünfzig Jahren, sagte seine Frau, als wir schon im Zug saßen und der metallene Regenbogen Bombardier Willkommen in Berlin nicht mehr auf unsere Köpfe drückte, da sagte seine Frau, egal ob er Brahms, Vivaldi oder Bach spielt, alles klingt iranisch. Und er sagte, es sei Schicksal, dass sie mich getroffen hätten, ich sähe aus wie die iranischen Frauen seiner Kindheit, er hatte iranische Mütter sagen wollen, vielleicht wollte er sogar wie meine Mutter sagen, hielt sich aber zurück, und er fügte hinzu, es sei auch eine Schicksalsfügung, dass ich mich in der Familienforschung besser auskenne als sie und dass ich mit dem gleichen Ziel und dem gleichen Zug
nach Polen fahre – falls man den Drang, nach Verschwundenem zu suchen, überhaupt als Ziel definieren dürfe, erwiderte ich. Und nein, es ist nicht Schicksal, sagte ich, denn Google wacht über uns wie Gott, und wenn wir etwas suchen, dann gibt er uns nur unsere Reime darauf, genauso wie sie einem, hat man im Internet einen Drucker gekauft, noch lange Zeit danach Drucker anbieten, und wenn man einen Schulranzen kauft, kriegt man noch jahrelang die Werbung dazu, von
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