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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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auslöffeln. Ich war die Jüngste in einer Liste der Jüngsten. Ich war die Jüngste überhaupt.
     
    Das Gefühl des Verlustes trat ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröhliche Welt, es schwebte über mir, streckte seine Flügel aus, ich kriegte keine Luft und kein Licht, wegen eines Mangels, den es vielleicht gar nicht gab. Manchmal kam es wie ein Blitz, schnell, wie eine Ohnmacht, als ob ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren würde, kurzatmig ruderte ich mit den Armen um Rettung, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen, getroffen von einer Kugel, die nie abgeschossen wurde, niemand hatte Hände hoch gesagt.
    Diese existentielle Gymnastik im Kampf um das Gleichgewicht schien mir Teil des Familienerbes zu sein, ein angeborener Reflex. In der Schule haben wir im Englischunterricht weitergeübt, hands up, to the sides, forward, down. Ich dachte immer, das Wort Gymnastik sei aus dem Wort Hymne entstanden, auf Russisch fängt beides mit G an, Gimnastika und Gimn , und ich streckte die Hände eifrig nach oben, im Versuch, die unsichtbare Hülle des Himmels zu berühren.
     
    Es gab viele, die noch weniger Verwandte hatten als ich. Es gab Kinder ohne Geschwister, ohne Babuschka, ohne Eltern, und es gab Kinder, die sich im Krieg für die Heimat geopfert hatten, kühne Helden, diese toten Kinder, sie wurden zu unseren Götzen gemacht, sie waren immer mit uns. Wir durften ihre Namen selbst nachts nicht vergessen, sie waren viele Jahre vor unserer Geburt gestorben, doch damals hatten wir kein Damals, sondern nur ein Jetzt, in
dem die Verluste des Krieges einen unerschöpflichen Vorrat unseres eigenen Glückes bilden sollten, denn wir lebten nur, so sagte man uns, weil sie für uns gestorben waren, und wir sollten ihnen immer dankbar sein, für unsere friedliche Normalität und überhaupt für alles. Ich wuchs nicht in menschenfresserischen, sondern in vegetarischen Zeiten auf, wie zuerst Achmatowa sagte und dann wir alle, wir schrieben alle Verluste dem längst vergangenen Krieg zu, jenem Krieg ohne Artikel und Beiwort, wir sagten einfach Krieg, im Russischen gibt es sowieso keinen Artikel, und wir sagten nicht welcher, denn wir dachten, es gäbe nur einen, fälschlicherweise, denn zur Zeit unserer glücklichen Kindheit führte unser Staat gerade einen anderen Krieg, im fremden Süden, für unsere Sicherheit, so sagte man uns, und für die Freiheit der anderen, einen Krieg, den wir trotz der täglichen Verluste nicht wahrnehmen durften, und auch ich nahm ihn nicht wahr, bis ich mit zehn Jahren vor unserem Hochhaus den Zinksarg sah, der die Überreste eines neunzehnjährigen Nachbarn enthielt, eines Jungen, an den ich mich schon damals nicht mehr erinnerte, aber an seine Mutter bis heute.
     
    Ich hatte keinen Grund zu leiden. Trotzdem litt ich, von früh an, obwohl glücklich und geliebt, umgeben von Freunden, es war mir peinlich zu leiden, ich litt immer wieder an dieser manchmal schneidend scharfen, manchmal wermutherben Einsamkeit, und ich dachte, es komme nur daher, dass mir etwas fehlte. Der üppige Traum von einer großen Familie an einem langen Tisch verfolgte mich mit der Beständigkeit eines Rituals.
    Dabei war unser Wohnzimmer voll mit den Freunden mei
nes Vaters, mit erwachsenen Schülern meiner Mutter, Dutzenden von Schülern, die ihr immer geblieben sind und die bald in mehreren Generationen an unserem Tisch saßen, und wir machten die gleichen Fotos wie andere Familien: vor dem Hintergrund der dunkel geblümten Vorhänge lauter fröhliche, leicht überbelichtete Gesichter, alle in Richtung Kamera gewendet, an einem langen, üppig gedeckten Tisch. Ich weiß nicht genau, wann ich während der lauten, überbordenden Feste meiner Familie zum ersten Mal den leisen Missklang hörte.
     
    Die Liste derer, die sich zu meiner Familie rechnen dürfen, war mit zehn Fingern erledigt. Ich musste die Tonleiter Tante, Onkel, Cousine, Tante zweiten Grades, auch den Onkel dazu, Cousine und Großonkel – rauf und runter, rauf und runter – gar nicht üben, überhaupt schreckte mich das Klavier, die aggressive Vollständigkeit der Tastatur.
     
    In einer anderen Zeit, vor den Feiern an unserem langen Tisch, war eine große Familie ein Fluch, denn unter den Verwandten konnten sich Weißarmisten, Saboteure, Adelige, Kulaken, im Ausland Lebende, viel zu Gebildete, Volksfeinde und deren Kinder sowie andere Verdächtige finden, und unter Verdacht waren alle, deswegen erlitten die Familien einen Gedächtnisschwund,
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