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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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Esther, vielleicht eine zweite Esther und Frau Siskind, eine taubstumme Schülerin von Ozjel, die Kleider nähte für die ganze Stadt
     
    viele Lehrer, die in ganz Europa Waisenhäuser gründeten und taubstumme Kinder unterrichteten
     
    Anna und Ljolja, die in Babij Jar liegen, und alle anderen dort
     
    ein Phantom namens Judas Stern, mein Großonkel
     
    einen Pfau, den meine Großeltern für die taubstummen Kinder kauften, um der Schönheit willen
     
    eine Rosa und eine Margarita, meine Blumenomas
     
    Margarita bekam die Empfehlung für die Parteimitgliedschaft 1923 direkt von Molotow, dem zukünftigen sowjetischen Außenminister, so erzählt man sich, als wäre es ein Hinweis darauf, dass wir immer im Zentrum des Geschehens standen
     
    meine Großmutter Rosa, die den schönsten Namen aller Logopädinnen hatte und auf ihren Mann wartete, länger als Penelope
     
    meinen Großvater Wassilij, der in den Krieg zog und erst nach 41 Jahren zu meiner Großmutter Rosa zurückkehrte. Sie hat ihm seine lange Wanderung nie verziehen, aber – bei uns gibt es immer jemanden, der aber sagt – aber, sagte dieser jemand, sie haben sich geküsst, am Kiosk neben der U-Bahn, da waren sie beide schon über siebzig, das Hotel Tourist wurde gerade gebaut, aber Großvater, sagte meine Mutter, Großvater konnte doch damals die Wohnung schon nicht mehr verlassen, und das Hotel Tourist wurde erst später gebaut
     
    meinen anderen Großvater, den Revolutionär, der nicht nur seinen Namen geändert hatte, sondern auch seiner Mutter in jedem sowjetischen Fragebogen einen neuen Namen gab, je nach den Anforderungen der Zeit, der Arbeit und seinen literarischen Vorlieben, bis er auf Anna Arkadjewna kam, so hieß Anna Karenina, die damit zu meiner Urgroßmutter wurde
     
    Wir waren glücklich, und alles in mir widersetzte sich dem Satz, den uns Lew Tolstoj vererbt hat, dass die glücklichen Familien sich ähnelten in ihrem Glück und nur die unglücklichen einzigartig sind, ein Satz, der uns in die Falle lockte und den Hang zum Unglück weckte, als wäre nur das Unglück der Rede wert, das Glück aber leer.
    Negative Zahlen
    Mein großer Bruder brachte mir die negativen Zahlen bei, er erzählte von schwarzen Löchern, zur Einführung in einen Modus vivendi. Er schuf sich ein Paralleluniversum, wo er für immer unerreichbar war, mir blieben die negativen Zahlen. Die einzige Cousine, von der ich damals wusste, sah ich kaum, noch seltener als ihre Mutter Lida, die große Schwester meiner Mutter. Mein strenger Onkel, der große Bruder meines Vaters, stellte mir bei seinen seltenen Besuchen Physikaufgaben zum Thema Perpetuum mobile, als ob die unaufhörliche Bewegung seine Abwesenheit in unserem Leben hätte vertuschen sollen. Meine beiden Babuschkas wohnten bei uns, waren aber nicht ganz da: Ich
war noch klein, als sie bereits das volle Unvermögen ihres hohen Alters erreicht hatten. Andere Babuschkas backten Piroschki und Kuchen, strickten warme Pullover und bunte Mützen, manche sogar Socken – Socken, der Kunstflug des Strickens, vyschij pilotasch , wie man sagte. Sie brachten die Kinder zur Schule und zum Musikunterricht, sie holten sie ab, und im Sommer warteten sie in ihren Gärten auf ihre Enkel, in ihren Datschas oder Häuschen auf dem Land. Meine Babuschkas lebten bei uns im siebten Stock, wo sie im Beton keine Wurzeln schlagen konnten. Beide hatten sie Blumennamen, und ich dachte insgeheim, dass die Malven, die vor unserem vierzehnstöckigen Haus wuchsen, Verbündete waren beim Komplott meiner Babuschkas, Rosa und Margarita, sich ins Pflanzenhafte zurückzuziehen.
    Sie hatten nicht alle Tassen im Schrank, obwohl man auf Russisch nicht alle Tassen sagt, sondern Hast du nicht alle zu Hause? Ich hatte Angst vor dieser Frage, obwohl meine Babuschkas fast immer zu Hause waren, zu meinem Schutz wahrscheinlich, trotzdem hatte mich dieses Nicht alle zu Hause oder einfach dieses alle alarmiert, als ob die anderen etwas über uns gewusst hätten, was mir nicht erzählt wurde, als ob sie gewusst hätten, wer oder was eigentlich fehlt.
    Manchmal dachte ich, ich wüsste es. Zwei von meinen Großeltern wurden im neunzehnten Jahrhundert geboren, und mir schien, in den Wirren der Zeit sei eine Generation verlorengegangen, übersprungen worden, sie waren in der Tat nicht zu Hause, bei meinen Freunden waren sogar die Urgroßeltern jünger als meine Großeltern, und ich sollte daher für zwei Generationen die Zeche bezahlen und die
Suppe
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