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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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oft um sich zu retten, was nur selten half, und als wir damals feierten, waren solche Verwandte, wenn es sie überhaupt gegeben hatte, meistens schon vergessen, oft vor den Kindern geheim gehalten, und so schrumpften die Familien, ganze Familienzweige sanken in Vergessenheit, die Sippe schmolz zusammen, bis
nur der Witz mit den beiden Gleichnamigen übrig blieb. Sind Sie mit ihm verwandt? Keineswegs, wir sind nicht einmal Namensvettern!
    Die Liste
    Eines Tages standen plötzlich meine Verwandten – die aus der tiefen Vergangenheit – vor mir. Sie murmelten ihre frohen Botschaften vor sich hin in Sprachen, die vertraut klangen, und ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.
    Ich kannte ihre Namen. Alle diese Levis, die irgendwo in der Welt verstreut wären, wenn sie noch lebten, denn so hießen meine Urgroßmutter, ihre Eltern und ihre Geschwister. Ich wusste, dass es die Gellers gab oder Hellers, genau weiß man es nicht. Von einem Simon Geller wusste ich nur durch eine einzige auf Russisch verfasste Notiz, eine Übersetzung aus einer jiddischen Zeitung, die nirgendwo auf der Welt mehr zu finden ist. Die letzten Krzewins, die Nachfolger der Hellers, kannte ich noch, jene Verwandten mit dem leicht knirschenden Namen, wie Schnee unter den Füßen, wie kowrishka , Pfefferkuchen, zwischen den Zähnen. Es gab auch die Sterns, so hieß mein Großvater bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, und so würde
auch ich heißen, wenn die russische Revolution nicht gesiegt hätte, und so hießen seine zahlreichen Geschwister, seine Eltern und deren zahlreiche Geschwister und seine Großeltern mit deren ganzer Sippe, falls sie wirklich so zahlreich waren, wie ich es mir gerne vorstellte.
     
    Meine fernen Verwandten mit den Namen Krzewin und Levi hatten in Łódź, Kraków, Kalisz, Koło, Wien, Warschau, Kiew und Paris gelebt, noch 1940, wie mir erst kürzlich klar wurde, und auch noch in Lyon, wie meine Mutter sagte. Rusja studierte in Wien und Jusek in Paris, an diesen Satz meiner Großmutter erinnere ich mich. Wer Rusja und Jusek waren, habe ich nie erfahren, irgendwelche Verwandte eben. Vielleicht war es gerade umgekehrt: Rusja studierte in Paris und Jusek in Wien. Das Wort Konservatorium fiel, aber ich erinnere mich nicht, wem dieses Wort zugewiesen wurde. Und an noch einen Satz erinnere ich mich: Auch Rusja und Jusek haben den Bürgersteig mit der Zahnbürste geputzt. In Łódź, Kalisz, Warschau waren vielleicht immer noch Ferien, und am Konservatorium hatte das Semester noch nicht begonnen, sie waren zu Hause und nicht in Paris oder Wien. Als ich diesen Satz in meiner Kindheit hörte, dachte ich, es wäre in der Schweiz, weil unsere Zeitungen damals darüber schrieben, dass in der Schweiz alles sauber sei und manche Schweizer Bürger sich mit kleinen Bürsten und Shampoo vor ihre Häuser hinhockten und den Bürgersteig scheuerten, und ich sah, wie das Land in Seifenblasen versank, dieses Land oder ein anderes in seiner strahlenden, unerreichbaren Sauberkeit.
     
    Einige Namen meiner Verwandten waren so verbreitet, dass es keinen Sinn hatte, nach ihnen zu suchen. Es wäre eine Suche nach Gleichnamigen gewesen, denn in den Listen stehen sie alle untereinander, nebeneinander wie Nachbarn, durcheinandergemischt, und die Meinigen sind nicht zu unterscheiden von Hunderten anderer, die genauso hießen, dabei wäre es für mich nicht möglich, die Meinigen von den Fremden zu trennen wie den Weizen von der Spreu, es wäre eine Selektion gewesen, und ich wollte keine, nicht einmal das Wort. Je mehr Gleichnamige es gab, desto geringer war die Chance, meine Verwandten unter ihnen zu finden, und je geringer diese Chance war, desto klarer wurde mir, dass ich alle Aufgelisteten zu den Meinigen zu zählen hatte.
     
    Akribisch sammelte ich ihre Namen, überall suchte ich nach Levis, Krzewins, Gellers oder Hellers, und irgendwann, als ich in der Militärkirche von Warschau vor den langen Listen stand, die in winziger Schrift von Wand zu Wand liefen, vor den Listen mit den Namen der Ermordeten von Katyń – warum suchen wir sogar in den Listen der Toten automatisch nach dem eigenen Namen? – da fand ich in diesen Listen
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