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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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Partnersuche ganz zu schweigen, und wenn man sich selbst googelt, verschwinden irgendwann sogar die Namensvettern, und es bleibt only you, als würde, wenn man sich den Fuß verstaucht hat und hinkt, plötzlich die ganze Stadt hinken, aus Solidarität vielleicht, Millionen von Hinkenden, sie bilden eine Gruppe, beinahe die Mehrheit, wie soll Demokratie funktionieren, wenn man nur das kriegt, was man schon gesucht hat, und wenn man das ist, was man sucht, so dass man sich nie allein fühlt oder immer, denn man hat keine Chance, die anderen zu treffen, und so ist das mit der Suche, bei der man auf Gleichgesinnte stößt, Gott googelt unsere Wege, auf dass wir nicht herausfallen aus unseren Fugen, ich treffe ständig Menschen, die das Gleiche suchen wie ich, sagte ich, und deswegen haben auch wir uns hier getroffen, und der alte Mann sagte, genau das sei eben Schicksal. In der Exegese war er offensichtlich weiter als ich.
     
    Auf einmal fiel mir das Musical ein, das tatsächlich vor Jahren hier Furore gemacht hatte, als man auf den Werbeflächen der Stadt die Worte Les Misérables sah, kommentarlos, anders als der gleichnamige Film, der die Elenden Gefangene des Schicksals nannte. Das Musical sprach jeden
mit Les Misérables an, als ob man ständig getröstet werden müsste – Ach du Elende! – oder auch nur darauf hingewiesen, dass nicht nur einer, sondern wir alle uns im Elend wiederfinden, im Elend vereint, denn angesichts dieser riesigen Buchstaben, angesichts dieser Ödnis in der Mitte der Stadt sind wir alle Elende, nicht nur die anderen, sondern auch ich. Und so füllen die Buchstaben von Bombardier am Bogen des Bahnhofsdaches uns mit ihrem Hall, wie Orgelmusik die Kirche füllt, und niemand kann entkommen.
     
    Und dann googelte ich wirklich: Bombardier war eine der größten Eisenbahn- und Flugzeugbaufirmen der Welt, und dieser Bombardier, der unsere Wege bestimmt, hatte vor kurzem die Kampagne Bombardier YourCity gestartet. Schnell und sicher. Und nun fuhren wir mit dem Warszawa-Express von Berlin nach Polen, mit dem Segen Bombardiers, umgeben von Vorhängen und Servietten, seinen Insignien mit dem Aufdruck WARS , einer Abkürzung so altmodisch und vergangen wie Star Wars und andere Kriege der Zukunft.

Kapitel 1
Eine exemplarische Geschichte
    Familienbaum
    Ein Fichtenbaum steht einsam
    Heinrich Heine
    Am Anfang dachte ich, ein Stammbaum sei so etwas wie ein Tannenbaum, ein Baum mit Schmuck aus alten Kisten, manche Kugeln gehen kaputt, zerbrechlich wie sie sind, manche Engel sind hässlich und robust und überleben alle Umzüge. Jedenfalls war ein Tannenbaum der einzige Familienbaum, den wir hatten, er wurde jedes Jahr neu gekauft und dann weggeschmissen, einen Tag vor meinem Geburtstag.
     
    Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche. Manche aus meiner Familie waren geboren, um ihren Berufungen nachzugehen in dem hellen, aber nie ausgesprochenen Glauben, sie würden die Welt reparieren. Andere waren wie vom Himmel gefallen, sie schlugen keine Wurzeln, sie liefen hin und her, kaum die Erde berührend, und blieben in der Luft wie eine Frage, wie ein Fallschirmspringer, der sich im Baum verfängt. In meiner Familie gab es alles, hatte ich überheblich gedacht, einen Bauern, viele Lehrer, einen Provokateur, einen Physiker und einen Lyriker, vor allem aber gab es Legenden. 
     
    Es gab
    einen Revolutionär, der zu den Bolschewiken ging und im Untergrund seinen Namen änderte, den nun wir schon fast hundert Jahre tragen, ganz legal
     
    mehrere Arbeiter in einer Schuhfabrik in Odessa, über die man nichts weiß
     
    einen Physiker, der ein experimentelles Turbinenwerk in  Charkow leitete und während der Säuberungen verschwand, sein Schwager wurde beauftragt, das Urteil über ihn zu sprechen, denn Treue zur Partei maß man an der Bereitschaft, die Eigenen zu opfern
     
    einen Kriegshelden namens Gertrud, Ehemann meiner Tante Lida, der geboren wurde, als das Land die Arbeit zum Selbstzweck erklärte, zuerst arbeiteten alle viel, dann zu viel und später noch viel mehr, denn die Vorbilder ersetzten die Normen, und Arbeit schafft Sinn in der Nation der Proletarier und Übermenschen, und so kam es, dass mein zukünftiger Onkel bei der Geburt den Namen Geroj truda bekam, Held der Arbeit, abgekürzt Gertrud
     
    dann noch Arnold, Ozjel, Zygmunt, Mischa, Maria, Vielleicht
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