Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
Vielleicht Esther
    Google sei Dank
    Es wäre mir lieber, ich müsste meine Reisen nicht hier beginnen, in der Ödnis um den Bahnhof, die immer noch von der Verwüstung dieser Stadt zeugt, einer Stadt, die im Lauf siegreicher Schlachten zerbombt und ruiniert worden war, als Vergeltung, so schien es mir, denn von dieser Stadt aus war der Krieg gesteuert worden, der tausendfach Verwüstung verursacht hatte, weit und breit, ein endloser Blitzkrieg auf eisernen Rädern, mit eisernen Flügeln. Das ist nun so lange her, dass diese Stadt zu einer der friedlichsten Städte der Welt geworden ist und diesen Frieden fast aggressiv betreibt, als eine Form der Erinnerung an den Krieg.
    Der Bahnhof wurde vor kurzem in die Mitte dieser Stadt gebaut, und trotz des Friedens war der Bahnhof unwirtlich, es war, als verkörpere er all die Verluste, die mit keinem Zug einzuholen sind, einer der unwirtlichsten Orte in unserem kreuz und quer vereinigten und doch sehr begrenzten Europa, ein Ort, an dem es immer zieht und wo sich der Blick auf eine Ödnis öffnet, ohne dass sich ihm Gelegenheit bieten würde, in einem städtischen Dickicht hängenzubleiben, auf etwas zu ruhen, bevor man wegfährt von hier, aus dieser Leere inmitten der Stadt, die keine Regierung füllen kann, mit keinen großzügigen Bauten und keinen guten Absichten.
    Es zog auch dieses Mal, als ich am Bahnsteig stand und wieder die Großbuchstaben Bombardier Willkommen in Berlin unter dem Bogen des geschwungenen Daches mit dem Blick abtastete, die Umrisse befühlte, gelangweilt, aber
doch wieder erstaunt über das Gnadenlose dieses Willkommens. Es zog, als ein älterer Herr sich mir näherte und mich nach Bombardier fragte.
    Man denke sofort an Bomben, sagte er, an Artillerie, an diesen schrecklichen, unbegreiflichen Krieg, und warum gerade Berlin so grüßen solle, diese schöne, friedliche, zerbombte Stadt, die sich all dessen bewusst sei, es könne doch nicht wahr sein, dass Berlin Ankommende wie ihn mit diesem Wort in Großbuchstaben sozusagen bombardiere, und was heißt hier Willkommen, wer genau soll hier bombardiert werden und womit. Er suche dringend nach einer Erklärung, denn er fahre gleich ab. Ich antwortete, etwas erstaunt darüber, dass meine innere Stimme sich in Gestalt eines alten Mannes mit schwarzen Augen und amerikanischem Akzent an mich wandte, atemlos und immer aufgeregter, fast ungezügelt mit Fragen mich bewarf, die ich selbst schon hundertmal durchgespielt hatte, play it again, dachte ich, immer weiter in diese Fragen versinkend, in diese Ferne der Fragen auf dem Bahnsteig, und ich antwortete, dass auch ich sofort an Krieg denke, keine Altersfrage also, ich denke sowieso immer an den Krieg, besonders hier in diesem Durchgangsbahnhof, der für keinen Zug Endstation ist, keine Sorge, man fährt immer weiter, dachte ich, und dass er nicht der erste sei, der sich das frage und auch mich. Ich bin zu oft hier, dachte ich kurz, vielleicht bin ich стрелочник, strelotschnik , ein Weichensteller, und immer ist der Weichensteller schuld, aber nur auf Russisch, dachte ich, als der alte Mann sagte, my name is Samuel, Sam.
    Und dann erzählte ich ihm, dass Bombardier ein französisches Musical sei, das in Berlin erfolgreich laufe, viele Men
schen kommen deshalb in diese Stadt, stellen Sie sich vor, nur wegen Bombardier , die Pariser Kommune oder so von damals, zwei Nächte im Hotel plus Musical alles inklusive von heute, und dass es schon Probleme gegeben habe, weil im Hauptbahnhof für Bombardier geworben wird, nur mit diesem einen Wort, kommentarlos, es stand schon in der Zeitung, sagte ich, ich erinnere mich, sagte ich, dort stand, das Wort wecke falsche Assoziationen, sogar einen Gerichtsfall hat es gegeben im Streit der Stadt mit dem Musical, es wurden Linguisten beigezogen, stellen Sie sich vor, die das Wort auf sein Gewaltpotential hin überprüften, und das Gericht hat das Urteil zu Gunsten der freien Werbung ausgesprochen. Ich glaubte immer mehr an meine Worte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was dieses Bombardier am Dachbogen des Bahnhofs bedeutete und woher es kam, aber das, was ich so begeistert und fahrlässig erzählte und was ich auf keinen Fall als Lüge bezeichnen würde, beflügelte mich, und ich schweifte immer weiter ab, ohne die geringste Angst abzustürzen, ich drehte mich immer weiter in den Kurven dieses niemals gesprochenen Urteils, denn wer nicht lügt, kann nicht fliegen.
    Wohin fahren Sie?, fragte mich der alte Mann, und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher