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Die Seelenzauberin - 2

Die Seelenzauberin - 2

Titel: Die Seelenzauberin - 2
Autoren: Celia Friedman
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Prolog
    Die Götter waren unterwegs.
    Der Junge presste sich an den heißen Boden und krallte seine rußgeschwärzten Finger in den Berg. Lavastückchen und Ascheklumpen lösten sich unter seinen Händen und verbrannten ihm die Haut wie glühende Kohlen, aber das nahm er kaum wahr. Seine Aufmerksamkeit war nur nach oben gerichtet, besonders auf die wenigen Stellen, wo sich die dichten Wolken teilten und der Himmel sichtbar wurde.
    Sie würden bald hier sein. Ganz bestimmt.
    Sie würden das Opfer nicht ablehnen.
    Weiter unten lagen ein halbes Dutzend Mädchen im weiten grauen Kessel des Vulkans und wimmerten vor Angst und vor Schmerzen. Sie waren ziemlich jung, zum Teil noch jünger als er, und allen strömte das Blut aus Schnitten an der Rückseite der Beine. Die Priester hatten verfügt, dass man ihnen die Kniesehnen durchtrennte, bevor sie in den Kessel gestoßen wurden. So wollte man verhindern, dass sie sich ein Beispiel an den letzten Opfern nahmen: Diese waren, anstatt sich in ihr Schicksal zu fügen, auf die andere Seite der Kaldera geflüchtet und hatten sich dort in die Lavagrube gestürzt. Wenn die Opfer allzu schnell starben, waren die Götter unzufrieden und schickten den Schwarzen Schlaf. Dann starben die Kinder, und das Getreide verfaulte auf den Feldern, weil keine gesunden Männer mehr da waren, die es hätten ernten können.
    Verständlicherweise litten die Mädchen Todesängste, und als eine von ihnen aufschrie, zuckte der Junge zusammen. Er konnte nicht sehen, wer es war, und verbot sich auch, darüber nachzudenken. Das Land der Sonne war klein, und er kannte jeden Bewohner mit Namen … aber wenn ein Mädchen zum Opfer erwählt wurde, gab sie ihren Namen und ihre Identität auf und hieß fortan nur noch Tawa , Göttermagd. Sie anders zu sehen, sich bewusst zu machen, dass dieselben jungen Dinger, die nun wie Lämmer auf der Schlachtbank lagen und auf die Götter warteten, einst im Schatten des großen Berges mit ihm herumgelaufen waren, mit ihm gescherzt und »Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins« gespielt hatten, wäre zu schrecklich gewesen.
    Futter. Die Priester gebrauchten das Wort nie, aber nichts anderes waren sie jetzt. Jeder im Land der Sonne wusste das, aber niemand sprach es laut aus. Wenn ein Mann seine Tochter als Braut den Göttern opferte, mochte er noch das Gefühl haben, eine ehrenvolle Tat zu vollbringen, doch sobald er sich eingestand, dass sie nur wie ein Schaf den Wölfen zum Fraß vorgeworfen würde, erkaltete die Ehre und starb eines kläglichen Todes. Die Blumen, die man den Mädchen ins Haar flocht, waren kein Brautkranz, keine Krone der Gemeinschaft mehr, sondern makabre Dekoration; ihre Schreie waren kein Lied, mit dem die jungfräuliche Braut ihren erhabenen und strahlenden Bräutigam begrüßte, sondern lediglich Ausdruck einer primitiven Urangst, die alles andere erstickte.
    Kein Wunder, dass niemand aus dem Dorf zurückblieb, um zu sehen, ob das Opfer angenommen wurde, dachte der Junge. Die Illusion eines heiligen Rituals wäre bei näherem Hinsehen womöglich nicht aufrechtzuerhalten gewesen.
    Plötzlich kam Bewegung in die Wolken am Himmel. Der Junge zog rasch den Atem ein, der Schwefelrauch brannte ihm in der Nase und reizte zum Husten. Ein Krampf erfasste seine Atemwege, er schloss fest die Augen, und die Tränen liefen ihm über die rußverschmierten Wangen, doch er gestattete sich keinen Laut, um die Götter, die bestimmt schon ganz nahe waren, nicht auf sich aufmerksam zu machen, bevor er bereit war. Am Ende hielten sie auch ihn noch für ein Opfer.
    Dann war der Anfall vorüber, er unterdrückte einen letzten Hustenreiz und schlug die Augen wieder auf.
    Und da waren sie.
    Makellos rein waren sie – o diese Reinheit! Kühl und klar hoben sie sich vor dem hellen Himmel ab, Eis gegen Feuer. Ihre Schwingen waren fein geädert wie Insektenflügel, aber unglaublich breit und so stark, sodass sie mit jeder Bewegung Staub- und Aschewirbel erzeugten. Die Körper glänzten wie ein Ozean beim Aufgang des Mondes, und über die Haut tanzten Lichter, blau, violett und in vielen anderen Farben, die der Junge nicht einmal dem Namen nach kannte. Die Schwingen glichen bläulichen Eisflächen, die mit jedem Schlag den verräucherten Wind kühlten. Mit ihrer Hilfe glitten die Götter durch die schwefelverpestete Luft wie Seehunde durch das Wasser. Hinter ihnen blieben brodelnde Giftwolken zurück.
    Die Priester lehrten, jeder Sterbliche sei des Todes, wenn er die Götter
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