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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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E RSTES K APITEL
    T HOMAS
    1932
    G rammofonmusik erfüllt das Behandlungszimmer des alten Doktors. Jazz. Thomas versucht, nicht hinzuhören, während der Arzt ihm das kalte Stethoskop auf die Brust legt, aber die Klänge des Saxofons überwältigen ihn, beschwören in ihm Bilder von fremden Städten und Abenteuern herauf.
    Doktor Thompson nimmt das Stethoskop weg und blickt in das ängstliche Gesicht des Jungen.
    »Du brauchst nicht so erschrocken dreinzuschauen, Thomas. Mit einem Herz wie deinem wirst du ewig leben.«
    »Pater O’Connor sagt, dass Jazzmusik vom Teufel kommt. Sie kann schreckliche Leidenschaften entfachen und einem die Seele stehlen.«
    Der alte Doktor lacht. Er durchquert das Zimmer mit den vielen Büchern und stellt die Musik lauter.
    »Wie kann Musik jemals böse sein, mein Junge? Es ist wohl wahr, dass einem die Seele gestohlen werden kann, aber nicht durch etwas so Unschuldiges wie Jazz.«
    »Wodurch dann?«
    Der alte Arzt dreht sich zu Thomas und sieht ihn mit ernsten Augen an. »Hast du jemals von Wechselbälgern gehört?«
    »Nein.«
    »Manche Mütter glauben, dass es böse Geister gibt, die ihnen, während sie schlafen, ihr Neugeborenes stehlen und ihnen stattdessen ein garstiges Wesen in die Wiege legen, das weder lebend noch tot ist. Ein Wechselbalg eben.«
    »Und Sie, Doktor? Glauben Sie auch daran, dass es so etwas gibt?«
    Der alte Mann zuckt mit den Schultern. »Ich war hier fünfzig Jahre lang Arzt. Schon seit sechs Generationen kommen die Ärzte in Blackrock aus unserer Familie. Fast zweihundert Jahre ist es her, da wurde der Großvater meines Großvaters zum Hellfire Club gerufen. Ein junger Stallbursche hatte dort seinen Herrn mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Jener Gentleman war damals in ganz Blackrock berüchtigt. Es handelte sich um den letzten Spross der Familie Dawson – du weißt schon, in deren Besitz Castledawson House war. Ein richtiger Wüstling. Er hatte das ganze Vermögen seiner Familie verspielt, befand sich im letzten Stadium der Auszehrung und hustete ununterbrochen Blut. Hast du schon mal was vom Hellfire Club gehört?«
    »Nein.«
    »Das Haus ist jetzt nur noch eine Ruine, brannte irgendwann total aus. Die Überreste davon sind noch in den Dublin Hills zu sehen. Dort haben sich damals die Wüstlinge und Trunkenbolde der berüchtigten Eagle Tavern in Dublin ein Stelldichein gegeben. Man erzählt sich, Henry Dawson sei es irgendwann überdrüssig geworden, auf das Wohl des Teufels anzustoßen und unverdünnten Whiskey, vermischt mit geschmolzener Butter, vor einem lodernden Kaminfeuer hinunterzustürzen; solange, bis die gnadenlose Hitze und der Alkohol die Säufer bewusstlos umkippen ließen. Doch er konnte es nicht lassen, immer wieder und wieder in den Hellfire Club zu kommen, zum Karten- und Würfelspiel, dem dort mit blasphemischenSchwüren und Flüchen gehuldigt wurde. Ganze Anwesen wurden so verspielt und der Gottseibeiuns, der Herr der Finsternis – oder auch Beelzebub oder Luzifer –, war stets in aller Munde. Alle machten sich einen Spaß daraus, ihn in Gestalt einer schwarzen Katze herbeizurufen. Mit Dawson aber wollte bald keiner mehr spielen, denn er besaß nichts mehr, das einen Einsatz wert gewesen wäre. Manche sagen allerdings, dass er noch eine allerletzte Wette mit dem Teufel einging. Keiner weiß, was an dem Morgen, als Michael Byrne, sein junger Stallbursche, kam, um ihn dort abzuholen, tatsächlich geschah. Aber die alten Leute in Blackrock erzählen sich, dass Dawson noch einen letzten Wunsch aussprach und dass er Michael Byrne durch unredliche Mittel dazu brachte, ebenfalls einen Wunsch auszusprechen. Sie legten beide einen Schwur auf die Reliquie eines Heiligen ab, das Stück eines Knochens, das sich bereits seit Generationen im Besitz der Familie Dawson befand. Man glaubte damals, dass solche Reliquien die Kraft besäßen, die mächtigsten Wünsche eines Menschen wahr werden zu lassen. Aber das unbändige Wollen hat auch eine finstere Seite; jeder Wunsch, der einem erfüllt werden soll, hat auch einen Preis. Man sagt, dass Michael Byrne sich später aus dem Knochen des Heiligen zwei Würfel schnitzen ließ. Und falls er sich damals Gold gewünscht haben sollte, dann wurde ihm dieser Wunsch erfüllt, denn er hatte fortan teuflisches Glück beim Karten- und Würfelspiel. Was aber Henry Dawson sich gewünscht hatte, erfuhr keiner. Sein Bursche behauptete später beharrlich, als er an jenem Morgen nach ihm sehen wollte, habe er
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