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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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krepdyschin oder Seide. Hellgrün mit weißen Streifen, violetten Punkten am Horizont eines Sonnentages, dunkelblau mit weißen und schwarzen Wellen, die durch die Landschaft rollen, und dieser duftende, leicht glänzende Stoff mit Lilien und Rosen, ein Wunder in unserer schlichten Welt. Ein halbes Königreich würde ich dafür geben und alle historischen Stoffe dazu, um ein kleines Stückchen dieser Seide in die Hand zu bekommen. Man tut alles im Versuch, den Tod wegzuinterpretieren, als gäbe es kein Verschwinden, nur Empfangen und Ankommen.
     
    In einem Städtchen steigen wieder Menschen ein, der Marktplatz und die Menschen, alles ist hübsch. Nächste Haltestelle Gusen, das Außenlager von Mauthausen, ich habe darüber gelesen. Wir fahren schnell durch. Die graue scharfe Wand der Gedenkstätte steht quer zur Straße, als wolle sie die Landschaft durchschneiden. Ich spüre diesen Schnitt an meinem Hals, als die Wand längst hinter uns ist. Ein Phantomschmerz, ich kann nicht schlucken. Kurz vor Mauthausen erwischt mein netter Fahrer eine Schülerin mit abgelaufenem Ausweis. Er wird gnadenlos, vernichtend, sie ist bedrückt und bezahlt die üblichen vier Euro. Alle schweigen einstimmig, er hat recht. Als ich an der Station Wasserwerk bei Mauthausen aussteige, ist er auch auf mich böse. Ich habe gesehen, wie er betrogen wurde, er hat sich erniedrigt gefühlt, und er hat zurückgeschlagen, auch das habe ich gesehen, als Zeugin der Fahrt, und Zeugen machen alles nur noch schlimmer.
     
    Mein Koffer bleibt stecken, alle warten, auch der Busfahrer wartet, und er sagt kein Wort. Ich mache krampfhafte Bewegungen, aber der Koffer kommt nicht durch. Es tut mir leid! Er schweigt, versteinert, recht wie er hat. Endlich befreie ich meinen Koffer und begrüße den Boden von Mauthausen. Der Schweiß läuft mir den Rücken hinab.
    Sisyphus
    Sisyphus, der der griechischen Sage nach dazu verurteilt
war, einen Felsblock einen steilen Berg hinaufzuwälzen, von
wo er kurz vor dem Gipfel immer wieder herabrollte,
wird in der ersten Silbe mit einem i, in der zweiten mit
einem y geschrieben. Ebenso: Sisyphusarbeit.
    Duden
    Auf der Hügelspitze sah ich eine Festung, eine Reminiszenz an das Mittelalter, mit mächtigen Mauern, hohen Türmen und einer tadellosen, ja einwandfreien Geometrie, die ich als schön, zumindest als angenehm bezeichnen würde. Ich hatte nicht gedacht, dass es hier schön wäre, ich dachte, hier darf es nicht schön sein. Der Anblick weckte in mir ein Gefühl für Maß, Proportion und Harmonie, das offenbar auch die Erfinder solcher Orte angetrieben hat. Neben mir steht Wolfgang, ein Mitarbeiter der Gedenkstätte, mein leicht verträumter Begleiter in Leinenanzug und elegantem Sommerhut. Ich freute mich über seine belebende Erscheinung, die überraschende mozartische Note.
    Ich habe Klarheit erwartet, ich dachte, um große KZ gäbe es keine Geheimnisse mehr, jedenfalls keine architektonischen, es sei alles beschrieben und geprüft und man dürfe sich dem Narrativ zuwenden, dem Sinn des Ganzen, aber noch vor dem Eingang zeigte mir Wolfgang einen Löschteich, mit Sprungtürmen, einem tiefen und einem flachen Bereich sowie Überläufen am Rand, doch für ein Schwimmbad sei es zu tief. Ich staunte über dieses Betonloch, als wäre es etwas Archäologisches, als handele es sich um eine Hinterlassenschaft der Maya und Azteken, um
rätselhafte Bauten verschwundener Zivilisationen mit einer für uns unbegreiflichen Logik.
     
    Wir stehen schweigend auf der Treppe, als wäre eine Rauchpause für die Einstimmung nötig, und beobachten die Teenager, die gackernd die Treppe rauf und runter wogen. Mauthausen liegt in seiner ganzen Selbstverständlichkeit vor uns.
     
    Ich bin wegen meines Großvaters hergekommen, wegen seiner siebzehn Tage. Ich denke nicht an ihn, nur an die anderen, doch ich schaffe es nicht, die hunderttausend auf mich zu nehmen. Heute ist der dreizehnte Juli, der heißeste Tag dieses Sommers, im Lager gibt es keinen Schatten. Team lese ich auf einem T-Shirt, und in der Tat, ein ganzes Team ist da, die Gegend ist für Fahrradprofis wie geschaffen, unbeholfen gehen sie in ihren Fahrradschuhen die gesicherte Todesstiege hinunter, mit der Aufschrift Team auf dem Rücken, sie besichtigen die Gedenkstätte auf ihrer Fahrradtour. Das kleine Tal des Steinbruchs, der Ort der Arbeit, erinnert an einen Nationalpark irgendwo in Amerika, ein Gelände mit offenen Felsen und viel Grün, weiter hinten ein kleiner
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