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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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keinen Unterschied zwischen KZ , Gedenkstätte und Stadt. Ich dachte, die ganze Welt sieht, dass ich nach Mauthausen fahre, dabei gab es hier niemanden, der mich hätte sehen können. Dann aber kamen junge Leute mit Strandtaschen und Schwimmreifen, sie fuhren mit dem 360er offensicht
lich baden, und das fand ich alles akzeptabel, bis eine Dame mit Klo-Brille zustieg, auch 360 Grad, ein Kreis, obwohl natürlich nicht so perfekt, und ein Rettungsring hätte mir besser gepasst auf dem Weg dorthin. Aber sei ihnen doch nicht böse, seit dem Krieg sind tausend Jahre vergangen, welcher Krieg denn, man darf doch aufs Klo, man darf klettern gehen, schwimmen, und es darf auch gutes Wetter sein. Ein längst vergangener Krieg steht nicht im Widerspruch zum Bikini, lass deine Gedanken von dieser Dame, sie ist keine Täterin und auch kein Opfer, und nun mussten diese Worte doch noch fallen, sie raucht, macht Rauchkreise, 360 Grad plus 5 Tage, so schöne Rauchkreise konnte nur Marlene Dietrich machen, vielleicht spielt die Dame auch Schach, sie hat einfach eine Klo-Brille gekauft, heute ist Mittwoch.
     
    Der Krieg ist längst vergangen, aber du möchtest die friedlichen Einwohner der Gegend um Linz einberufen mit ihren Schwimmreifen und Klo-Brillen, ausgerechnet jetzt, wo es so heiß ist und sie baden fahren, sie sind einfach hier geboren und wohnen hier. Sie sind nicht schuld, dass dieser Krieg dein Ursprung ist, deine Geschichte, deine Antike, und du fährst von hier nach dort und bezahlst dafür nur mit fünf bis sechs Tagen, diesem Rest des Kreises, und gäbe es keinen Krieg, hättest du keine Geschichte, mit allen dazugehörenden Motiven, als wärst du aus dem Kopf von Zeus geboren, in voller Rüstung, doch mit weicher Ferse.
     
    Dann fuhren wir durch Linz, die von der Sonne blitzende Donau blendete mich an jeder Kreuzung, ich hatte gute
Laune, entweder weil die Häuser schön waren, oder weil es meine Absicht war, die Orte bei der Durchfahrt zu mögen. Vielleicht wollte ich einfach sagen dürfen, Linz ist eine schöne Stadt. Viele junge Menschen stiegen aus und ein, Typ Zivildienstleistende, Zivis, meine weiße Garde. Oder arbeiteten hier alle in Gedenkstätten? Ein Schloss auf dem Berg, die Donau, ein Fahrer, der es genoss, uns zu fahren, und zu mir sagte, ich solle ganz vorne bleiben bei ihm, Gnädige Frau, man sieht hier besser, und er werde mir zeigen, wo ich aussteigen muss, und ich dachte, wie seltsam es ist, dass in diesen heimeligen Tälern Menschen vernichtet wurden, als wäre es in Sibirien akzeptabel, dort, wo es kalt, kahl und flach ist.
     
    In meinem Kopf kreuzten sich zwei Zitate, die ich früher sehr geliebt hatte, damals, als ich noch jung war und Zitate liebte und dachte, man habe märchenhafte drei Leben, wenn man sich mit Literatur rüstet: Manuskripte brennen nicht und The letter always reaches its destination . Diese Sätze hatten mich hoffen lassen, alles sei nur eine Frage der Interpretation und nichts gehe verloren, aber jetzt erschienen sie mir als arrogante und klebrige Dummheit, Sirup der frommen Wünsche, vielleicht ist es einfach zu heiß hier. Ich schaute durchs Fenster und sah die gelblichen Felder, die weichen Farben und Texturen der Landschaft. Man sollte diese Zitate lieber getrennt konsumieren, dachte ich, aber nun habe ich sie zusammengeworfen, um sie auf diesen Wiesen und Feldern liegen zu lassen, samt ihrem herben Nachgeschmack, Manuskripte brennen doch besser als Holz, und Briefe gehen ständig verloren, wenn sie überhaupt geschrieben werden, und wenn, dann werden
sie auch noch missverstanden, fast immer, besonders nun die elektronischen.
     
    Ich versuche, mich wieder auf historische Stoffe zu konzentrieren, schließlich fahre ich nach Mauthausen, aber es klappt nicht, ich denke an Wolken und Wiesen, an schöne bunte Kleider, Blumen, aber Geschichte, das Geschehen – ach, keine Ahnung, alles Stoffe, Stoffe. Man kann schon viel daraus nähen. Historische Stoffe sind für mich Samt, Atlas, Crêpe de Chine oder, wie wir damals auf Russisch sagten, krepdyschin .
     
    Meine Babuschka Rosa, die ihr ganzes Leben auf die Rückkehr ihres Mannes Wasja, Wassilij, wartete, aus all diesen Lagern, die ich jetzt aufsuche, hatte solche Kleider. Sie, die während des Krieges zweihundert Kinder gerettet hatte, sah im Alter aus wie ein vom Hunger geschwollenes Kind. Sie war ganz dünn, aber ihr Bauch war groß, und kein Kleid passte ihr, so hatte eine Schneiderin Kleider für sie genäht, aus
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