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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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für sie die Luft dort oben zu dünn, habe Hans erklärt.
    Als wir uns dem Haus näherten, kam uns ein Riese entgegen, der mit seiner Statur die Berge in den Schatten stellte. Das war Hans, mit den funkelnden Augen eines Abenteurers, haarig wie ein Räuber, männlich, allzu männlich, so einer sollte sich aufmachen und in die Welt hinausgehen, um zu töten und zu retten, doch er war an seinen Hof gefesselt. Hans trug schwere Stiefel mit roten Schnürsenkeln, eine Sowjetmütze mit Hammer und Sichel im Roten Stern. Achtung, Enkelin eines russischen Kriegsgefangenen in der Gegend!, hatten ihm die Berge zugerufen, er war tatsächlich vorbereitet auf mein Kommen und fing gleich an zu erzählen, als hätten wir eine Führung bei ihm bestellt. Dieses Kreuz hier wurde von einem russischen Kriegsgefangenen geschnitzt, schon im Ersten Weltkrieg, erzählte Hans und zeigte uns ein fragiles russisch-orthodoxes Kreuz aus Holz neben der Tür. Der Russe lebte hier und verliebte sich in ein Mädel aus dem Tal, sie machten einen Sohn, sagte Hans und schaute uns kurz an, als wäre er selbst über die Einfachheit des Geschehens amüsiert, auch über die unverbrüchlichen Gesetze der Natur, und dann ging der Gefangene fort, sagte Hans, in seine Heimat, sein Sohn wuchs ohne ihn auf, und im nächsten Krieg ging dieser Sohn zu den Nazis, aber richtig, sagte Hans und schaute uns siegesgewiss an, als wäre er stolz darauf, er war aber stolz auf sei
ne Geschichte – und dann ging er als Aufseher nach Dachau oder Mauthausen. Dort ist etwas passiert, worüber niemand etwas weiß, sagte Hans, aber jeder im Dorf wusste, dass der Russensohn sich deswegen an die Front meldete, freiwillig. Er fiel dort, wo sein Vater herkam, bei Smolensk.
     
    Wir waren alle still geworden, obwohl auch skeptisch, über dieses Märchen, das Hans uns so rund erzählte, über Hans selbst, der wie ein Naturereignis vor uns stand, über sein echtes Kreuz, seine Maskerade – wir waren alle skeptisch geworden und still, wie immer, wenn man ergriffen ist.
     
    Im Stall spielte ein kleines Reh mit einem Küken, der Hund lief durch den Hof und jagte einem Kaninchen nach, später kamen Gänse. Wir saßen an einem langen Tisch, und Hans kochte, für den Kaiserschmarrn hatte er alle Eier seines Haushalts verbraucht, seine ganze Kraft, um den besten Kaiserschmarrn des Reichs zu machen. Dann dichtete Hans Verse auf mich, erriet meinen Beruf, machte mir Komplimente: Sie merkt alles. Selten begegne ich Männern, die intensiver sind als ich. Wir sprachen über den Krieg und lachten die ganze Zeit, vielleicht auch nur wegen der lustigen Tiere und der belebenden Luft. Wir saßen umringt von den Bergen, die rötliche Alm versank im Nebel, Michael hatte Almrausch für mich gepflückt, für die Enkelin eines Kriegsgefangenen, obwohl es verboten ist, und ich dachte, dass wir alle, auch die Saudis, dort, am Anfang des Weges, und auch die orthodoxen Juden, die dieses Jahr nicht gekommen waren, dass wir alle Teil eines großen
Epos sind, ein nur zufällig beleuchteter Teil davon, eine kleine Strecke.
     
    Es ist Zeit, die Kühe zu holen, sagte Hans und stieg in seinen Jeep. Wir fuhren hinauf, Richtung Schnee. Aus meiner ukrainischen Praxis war mir nicht bekannt, dass man Kühe mit dem Jeep holen kann, zwischen einem Jeep und Kühen liegen bei uns Welten, meist ungangbar sumpfige.
     
    Als wir zurück waren und ich schon ans Melken dachte und daran, dass ich für immer bliebe, wenn ich seine Kühe melken würde, denn Milch löscht die Erinnerung, hörte ich Hans verkünden, ich habe ein schönes Zimmerchen für dich, ich werde dich nicht stören, und obwohl alle schwiegen, spürte ich, dass sie dafür waren und mich schweigend zu überreden versuchten, denn mein Großvater, der Landwirt, ist hier zwei Jahre in Gefangenschaft gewesen, und jetzt schenkte er mir die Schönheit dieser Welt mitsamt allen Freiheiten, hier waren die Gesetze der Natur im Spiel, die manchmal so offensichtlich sind, dass nicht nur zwei Menschen ihre Wirkung bemerken, sondern alle Anwesenden, selbst diejenigen, die keine Beziehung zur Natur haben, und wäre mir eine Fortsetzung gestattet, bliebe ich hier, so wie damals der Gefangene, ich würde mich freiwillig melden und melken lernen, dachte ich, völlig an der Realität vorbei.
    Als Hans mir vor aller Ohren ein Zimmer für die Nacht anbot, sagte ich, dass er mich dann morgen mit dem Jeep nach Mauthausen fahren müsse, und meine innere Stimme sagte Halt.
    Dreimal
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