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Herz aus Eis

Titel: Herz aus Eis
Autoren: Jude Deveraux
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Prolog
    Die dicke alte Frau mit den schwarzverfärbten Zähnen und den grauen Haarsträhnen unter dem verbeulten Hut schwang sich überraschend leichtfüßig auf den Kutschbock des schweren Fuhrwerks. Hinter ihr lag allerhand frisches Gemüse, von einer mit Wasser getränkten Plane bedeckt.
    »Sadie!«
    Die Frau blickte nach links. Da stand Reverend Thomas, groß, gutaussehend, eine Sorgenfalte auf der Stirn.
    »Du wirst vorsichtig sein? Keine Dummheiten anstellen? Nicht auf dich aufmerksam machen?«
    »Ich verspreche es«, sagte Sadie mit einer weichen jugendlich klingenden Stimme. »Ich werde mich beeilen und bald zurück sein.« Dann schnalzte sie mit der Zunge, und die Pferde trabten an.
    Es war ein weiter Weg von Chandler in Colorado bis zu der Kohlenmine, die Sadie zu betreuen hatte. Einmal mußte sie auf der unebenen, holprigen Straße anhalten, um einen Zug der Colorado and Southern Railroad passieren zu lassen. Jede der siebzehn Kohlenminen in der Umgebung von Chandler hatte ihre eigene Eisenbahntrasse.
    Vor der Abzweigung zur Fenton Mine überholte Sadie ein anderes Trödlerfuhrwerk, auf dessen Kutschbock ebenfalls eine alte Frau saß. Sadie hielt kurz ihr Gespann aus vier Pferden an und suchte die Gegend mit den Augen ab.
    »Schwierigkeiten?« fragte sie leise, als die andere Frau neben ihr anhielt.
    »Nein; aber das Gerede von einer Gewerkschaft nimmt zu. Bei dir?«
    Sadie nickte kurz. »Es gab ein Schlagwetter im Stollen Nummer sechs in der vergangenen Woche. Die Männer finden nicht mehr die Zeit, die Schächte abzustützen, die sie graben. Hast du ein Pfefferminz?«
    »Hab’ sie alle verschenkt, Sadie«, sagte die andere und beugte sich näher. »Sei vorsichtig. Die »Little Pamela< ist die schlimmste von allen. Rafe Taggert traue ich nicht über den Weg.«
    »Er macht vielen Leuten Angst. Da kommt ein Wagen.« Sadies Stimme wurde tiefer, als sie mit einem lauten Hott und Hü ihr Gespann wieder antrieb. »Wir sehen uns in acht Tagen wieder, Aggie. Laß dir keinen Nickel aus Holz andrehen!«
    Sadie fuhr an den Männern vorbei, die ihr auf dem Wagen entgegenkamen, und hob grüßend die Hand. Dann bog sie in die Straße ein, die durch eine Schlucht zur Mine >Litte Pamela< führte.
    Der Weg war steil, und sie entdeckte den Wächter erst, als er schon vor ihr stand. Ihr Herz begann laut zu klopfen, obwohl sie doch die Ruhe selbst sein wollte.
    »Morgen, Sadie. Hast du Kohlrüben dabei?«
    »Große, fette Kohlrüben.« Sie grinste, zeigte ihre Runzeln und verrotteten Zähne.
    »Heb mir ’nen Sack von den Dingern auf, ja?« sagte er, während er das Tor aufsperrte. Von Bezahlen war nicht die Rede. Daß er das Tor aufsperrte, um einen Außenseiter in das geschlossene Lager einzulassen, war Bezahlung genug.
    Die Wächter, die um das Lager verteilt waren, sollten dafür sorgen, daß kein Gewerkschaftsvertreter die Mine betrat und die Bergarbeiter organisierte. Wenn sie jemanden antrafen, der sich in dieser Absicht dem Lager zu nähern schien, schossen sie erst und stellten hinterher Fragen. Mit solchen Vollmachten ausgestattet, genügte es, wenn die Wächter sagten, der Erschossene sei ein Gewerkschaftsvertreter gewesen, und sie wurden von jedem lokalen oder staatlichen Gerichtshof freigesprochen. Die Minenbesitzer hatten ein Recht, ihr Eigentum zu schützen.
    Sadie hatte alle Hände voll zu tun, ihr Gespann durch die engen, mit Kohlen beschotterten Straßen zu lenken. Zu beiden Seiten standen aus Brettern gezimmerte Baracken, die die Bergarbeiter als Häuser bezeichneten — vier oder fünf winzige Räume, ein Klosett und dahinter ein Verschlag für Kohlen. Wasser wurde mit dem Eimer aus einem mit Kohlenstaub verseuchten Gemeindebrunnen geschöpft.
    Sadie lenkte ihr Gespann an dem Bergwerksladen vorbei und nickte dem Inhaber kurz zu. Sie waren natürliche Feinde. Die Minenarbeiter wurden mit Gutscheinen entlohnt, so daß ihre Familien alles, was sie zum Leben brauchten, nur in dem Laden einkaufen konnten, den der Bergwerksbesitzer im Lager eingerichtet hatte. Manche Leute sagten, die Minenbesitzer verdienten mehr Geld mit ihren Läden als mit ihrer Kohle.
    Zu ihrer Rechten, zwischen den Bahngeleisen und der steil ansteigenden Bergflanke, war die »Sunshine Row« — eine schiefe Reihe in scheußlichem Gelb bemalter Doppelhäuser. Da gab es weder einen Vorgarten noch einen Hinterhof, nur Aborthäuschen, die knappe fünf Meter von den Wohnungen entfernt lagen. Sadie kannte diese Mischung aus Qualm, Ruß und
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