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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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erzeugte ich weitere Kilos von Grausamkeiten,
doch durch diese Vervielfältigung passierte etwas, wozu wir Geräte brauchen, und ich drückte auf den Knopf, als hätte dieses Gerät etwas retten können, ich kopierte alles und spürte, wie meine eigene Zukunft immer größer, immer ausgedehnter wurde, je mehr ich Gunskirchen kopierte, angesichts dieser immer weiter aufgeschobenen Betrachtung, die mir vielleicht gar nicht gestattet ist, und ich kopierte, bis ich zu ahnen begann, dass ich wieder einmal e  von ä nicht unterschied, gerettet, Geräte, und in diesem Gerät Rettung suchte, unbedacht.

     
    Woran ich dachte –
     
    als die ungarischen Juden nach Gunskirchen kamen, war mein Großvater bereits dort, sollten die nichtjüdischen Männer den jüdischen Häftlingen etwas angetan haben?
     
    dass die Schlechtesten überlebt haben
     
    was ich alles tue, um seine 42 Tage in Gunskirchen und die 37 Jahre seines Lebens in der Heimat zu verstehen, und sei es nur für eine Zeile
     
    ich möchte nach Hause
     
    er war genauso alt wie ich jetzt
     
    ich habe ihn wieder aus den Augen verloren
     
    wenn die Welt so ist, hat es überhaupt keinen Sinn zu leben, dieser Gedanke bedeutet keine Schwäche
     
    ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter
     
    dass es kaum Wasser im Lager gab, und wenn mein Großvater überlebt hat, bedeutet es, dass jemand an seiner Stelle sterben musste, aber das habe ich schon gesagt
     
    an das Wort Kazettler, das in den Dokumenten stand, ein Kazettler, acht Kazettler, Kazettler hin, Kazettler her
     
    zwei amerikanische Greise, die sich irgendwo mitten in den USA treffen, vielleicht in Texas, und von Gunskirchen reden, darüber, wie ihre Einheit im Wald zufällig Tausende von Verhungerten gefunden hatte, und darüber, wie Tausende in den folgenden Tagen starben, nachdem sie von ihren Rettern Essen bekommen hatten
     
    wie eine israelische Familie nach Gunskirchen fährt, nachdem sie das Tagebuch des verstorbenen Vaters gefunden haben, der Mauthausen, Gusen und Gunskirchen überlebt hatte, ein 17jähriger, aus Budapest, er überlebte, weil er alles zählte wie besessen, die Stufen, die Bäume, die Menschen, die Streifen. Seinen Kindern sagte er nichts, und nun sitzen sie, vier erwachsene Geschwister, im Gunskirchener Wald, um den ihnen unbekannt gewordenen Vater zu finden. Einer von ihnen dreht einen Film darüber und nennt ihn Six Million and One , als hätte seine Kalkulation aus einer monolithischen Zahl wieder einzelne Menschen gemacht, aus six million werden six million ones
     
    dass man etwas sieht oder tut, und das ist dann für immer
     
    ich weiß nicht, woher diese Überzeugung kam, aber genau dort, in diesem kleinen Lager, geschah nach allem, was schon geschehen war, etwas, was die Rückkehr meines Großvaters nach Hause unmöglich machte, so dass er, zurück in Kiew, nicht bei der Familie bleiben konnte, nicht bei seinen Töchtern und seiner Frau Rosa, deren Mutter und Schwester in Babij Jar liegen, was einen für immer jüdisch macht, ich weiß, dass seine gescheiterte Rückkehr etwas mit dem Todesmarsch der ungarischen Juden zu tun hatte
     
    vielleicht hat mein Großvater in dieser Menge von Frauen und Kindern jemanden gesehen, der den Seinen ähnelte
     
    dass die Gewissheit in der Vermutung liegt
     
    Benno, der 17jährige Bruder meiner neugefundenen Verwandten Mira Kimmelman, Nummer 133 856 von Mauthausen, wurde im März 1945 auf einem der zahlreichen Märsche von Mauthausen nach irgendwo erschossen, er konnte nicht weitergehen, wie ein Augenzeuge sagte
     
    dass Verwandte sich auf solchen Wegen treffen, und hier sind alle verwandt
     
    an den Todesmarsch auf Google Map
     
    Iwan Mjatschin, ihn habe ich noch gar nicht erwähnt, noch ein 17jähriger. Er war der einzige, über den mein Großvater sprach, Iwan arbeitete in der Lagerküche, und als er erfuhr, dass Wassilij zwei Töchter hat, versuchte er, für
ihn Reste zu besorgen, denn Iwans Meinung nach sollte eher Wassilij überleben als Jungen, die keine Kinder hatten, Wasja überlebte, und er dachte, wegen Iwan, aber vielleicht wollte er auch nur jemandem für sein Überleben dankbar sein, sonst bleibt nur die Schuld, doch in welchem Lager sie einander begegnet sind, wissen wir nicht, auf den Mauthausener Listen gibt es keinen Iwan Mjatschin
     
    in der Sowjetunion gab es nach dem Krieg zehn Millionen mehr Frauen als Männer, oder zwanzig
     
    mein Großvater Wassilij war nach Hause zurückgekehrt, doch nur für kurze Zeit.
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