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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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Alle hatten auf ihn gewartet, meine Großmutter Rosa hatte seinen Lieblingsledermantel durch den Krieg gerettet, trotz der Evakuierung und dem Tod naher Verwandter. Wassilij war wieder da, und sie stritten, vielleicht nicht die ganze Zeit, aber oft. Erst verschwand der Mantel, und dann ging auch Wassilij.
    Das Ende des Imperiums
    Ich bin überzeugt, dass meine Reise durch Österreich inszeniert wurde, ich weiß nur nicht, von wem, ich folgte den Spuren einer Kriegsgefangenschaft, traf Saudis, den Riesen Hans und dann noch zwei Staatspräsidenten, die mit ihren Hubschraubern auf der Wiese vor Mauthausen gelandet waren, wie in Apocalypse Now , begleitet von Walkürengesang, und in den Städten hielten mir fremde Männer die Türe auf. Als ich endlich in Wien ankam, wo sich
die Kriegsarchive befanden und wo Ozjel, der Vater meiner Großmutter Rosa, geboren wurde, war gerade Otto von Habsburg gestorben, und die Zeitungen schrieben über das Ende des alten Europa, über siebenhundert Jahre Habsburg, eine Dynastie, die die Geschichte mehrerer Jahrhunderte geprägt hatte, sie schrieben über den Ersten Weltkrieg und was alles in diesem nun wirklich abgeschlossenen Jahrhundert gewesen wäre, wenn Otto von Habsburg Kaiser geworden wäre oder mindestens eine einflussreiche Persönlichkeit in der europäischen Politik, und in den Zeitungen stand auch, dass dies nun wirklich das Ende sei. Darüber, wie diese Dynastie Europa in den Ersten Weltkrieg geführt hatte, kein Wort. Die Stadt schmückte sich für das üppige Begräbnis, die Menschen gingen langsamer, als unsere Zeit erlaubt, auch ich schritt langsam und feierlich die Straßen und Gassen von Wien entlang, wie die Tänzer im letzten Akt, wenn sie Hand in Hand, er und sie, an den Reihen ihrer Untertanen vorbeigehen und triumphierend das Ende der Vorstellung erreichen. Ich ging allein und sah, wie aus den Fenstern am Weg des Begräbniszugs schwarze Schleifen herausgehängt wurden, und dachte an einen anderen Zug, im Geiste war ich immer noch bei meiner nicht enden wollenden Kolonne.
    La-la-la Human Step hieß die Tanz-Performance, bei der ich wieder einen Hans kennenlernte. Danach gingen wir tanzen. Hans war ein DJ aus Deutschland, er erzählte mir von Dionysos, seinem Kult und seinen Frauen, von der Selbstvergessenheit im Rhythmus, von Hingabe und Trance, von den Schwingungen der Masse in unserer globalisierten Welt, Hunderte von Menschen tanzten mit uns, und irgendwann sprachen wir von unseren Großvätern, die in
Kriegsgefangenschaft gewesen waren, seiner als Deutscher in Sibirien, meiner als Russe in Österreich, wir raveten, oder we were raving for peace, die ganze Nacht, für den Weltfrieden, für Dionysos und in memoriam Otto von Habsburg. Am nächsten Tag reiste ich ab und fuhr ein letztes Mal durch Wien, vorbei an Sperranlagen, Gendarmen, Kutschen, Kavalleristen und Militärs, es waren auch alte Leute auf den Straßen, in bunten Kleidern und mit Hutgarnituren, als wären sie aus einer Sissi-Inszenierung auferstanden, Untertanen ihrer eigenen Vergangenheit, aber Otto von Habsburgs Begräbnis habe ich verpasst, wie auch das angekündigte Ende Europas.
    Kreuzung
    Ich bin als Kreuzung zweier Straßen mit deutschen Namen entstanden, Engels und Karl Liebknecht. In diesen beiden Straßen sind meine Eltern zur Welt gekommen, mein Vater in der Uliza Engelsa und meine Mutter in der Uliza Liebknechta Ecke Institutskaja, und auch meine Schule stand an dieser Kreuzung. Wenn es eine Schuld gibt, in dem Sinn, dass alles einen Grund hat, dann liegt sie in dieser deutschen Kreuzung, ihre Klänge sind in mich hineingefallen, damals, als ich zur Schule ging. Engels kannten wir, er hat Der Ursprung der Familie geschrieben und war mit Marx befreundet, er hieß einfach Engels, Klassiker hatten kurze, klangvolle Namen und waren immer im Profil zu sehen, und immer alle zusammen, sie blickten nicht uns entgegen, nur der Zukunft, Karl Marx, wie zwei Schüsse, oder wie ein Befehl, im Gleichschritt, Marx! Außerdem war er der Namensgeber unserer Tortenfabrik. Karl Liebknecht dagegen, mit seinem krächzenden Stottern, hatte kein Profil, Karl, mein lieber Knecht mit Krücken, niemand kannte ihn, und schon deswegen war er mir lieber, vielleicht weil ich sein Verhängnis am Kanal spürte. Die kleine Rosa-Luxemburg-Straße kreuzte die Karl-Liebknecht-Straße und wurde von der Tschekisten-Straße abgeschnitten, eine Topographie, die nicht vergeht, wie ein Gedicht. »Nacht, Weg, Laterne, Apotheke,
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