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Calibans Krieg

Calibans Krieg

Titel: Calibans Krieg
Autoren: James S. A. Corey
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PROLOG Mei
    »Mei?«, sagte Miss Carrie. »Räum doch bitte die Malsachen weg. Deine Mutter ist hier.«
    Sie brauchte mehrere Sekunden, um zu erfassen, was die Lehrerin von ihr verlangte. Es lag nicht daran, dass Mei die Worte nicht verstand, denn sie war vier Jahre alt und kein Kleinkind mehr. Allerdings passten die Worte nicht zu der Welt, die sie kannte. Ihre Mutter konnte nicht kommen und sie abholen. Mommy hatte Ganymed verlassen und lebte auf der Ceres-Station, weil sie – wie Daddy es ausdrückte – ein bisschen Mommy-für-sich-allein-Zeit brauchte. Dann raste ihr Herz, und Mei dachte: Sie ist wieder da.
    »Mommy?«
    Mei saß vor der Kinderstaffelei, und zusätzlich blockierte Miss Carries Knie den Blick auf die Tür zum Vorraum. Ihre Hände waren von den roten, blauen und grünen Fingerfarben klebrig und gründlich verschmiert. Sie beugte sich vor und langte nach Miss Carries Bein, um es wegzuschieben und sich zugleich hochzuziehen.
    »Mei!«, rief Miss Carrie.
    Mei betrachtete die Farbe, die sie auf Miss Carries Hosen hinterlassen hatte, und erkannte die unterdrückte Wut in dem breiten, dunklen Gesicht der Frau.
    »Entschuldigung, Miss Carrie.«
    »Schon gut«, antwortete die Lehrerin mit einer gepressten Stimme, die Mei verriet, dass sie nicht bestraft werden würde, obwohl es überhaupt nicht gut war. »Wasch dir bitte die Hände, und dann kommst du wieder her und räumst deine Malsachen auf. Ich nehme inzwischen das Bild herunter, damit du es deiner Mutter geben kannst. Ist das ein Hündchen?«
    »Das ist ein Weltraummonster.«
    »Das ist aber ein sehr schönes Weltraummonster. Jetzt geh, und wasch dir die Hände, meine Liebe.«
    Mei nickte, drehte sich um und rannte zur Toilette. Der Kittel flatterte hinter ihr wie ein Lappen, der sich in einem Luftschacht verfangen hatte.
    »Und fass nicht die Wand an!«
    »Entschuldigung, Miss Carrie.«
    »Schon gut. Aber putz das ab, wenn du dir die Hände gewaschen hast.«
    Das kleine Mädchen drehte das Wasser voll auf und spülte die Farbe in Kringeln ins Waschbecken. Dann tat sie so, als trocknete sie sich die Hände ab, ohne darauf zu achten, dass die Tropfen in alle Richtungen flogen. Es fühlte sich an, als hätte sich die Schwerkraft verändert und zöge sie zur Tür und zum Vorraum statt nach unten. Angesteckt durch ihre Aufregung, sahen die anderen Kinder zu, wie Mei die Fingerabdrücke mehr oder weniger ordentlich von der Wand abwischte, die Farbtiegel in die Schachtel schob und die Schachtel ins Regal stellte. Dann zog sie sich den Kittel über den Kopf, statt Miss Carrie um Hilfe zu bitten, und stopfte ihn in den Recycler.
    Im Vorraum wartete Miss Carrie mit zwei weiteren Erwachsenen, aber ihre Mommy war nicht dabei. Es war eine Frau, die Mei nicht kannte. Sie hatte das Bild mit dem Weltraummonster in der Hand und lächelte höflich. Der andere war Doktor Strickland.
    »Nein, sie geht immer brav zur Toilette«, erklärte Miss Carrie gerade. »Natürlich gibt es hin und wieder kleine Unfälle.«
    »Natürlich«, sagte die Frau.
    »Mei!« Doktor Strickland beugte sich zu ihr herunter, bis er kaum noch größer war als sie. »Was macht denn mein kleiner Liebling?«
    »Wo ist meine …«, setzte sie an, aber bevor sie »Mommy« sagen konnte, hob Doktor Strickland sie hoch und nahm sie auf die Arme. Er war größer als Daddy und roch nach Salz. Er kippte sie rückwärts, kitzelte sie an den Seiten, und sie lachte schallend, bis sie nicht mehr sprechen konnte.
    »Danke«, sagte die Frau.
    »Es war mir ein Vergnügen.« Miss Carrie gab der Frau die Hand. »Wir haben Mei wirklich gern hier bei uns im Unterricht.«
    Doktor Strickland kitzelte Mei, bis die Tür des Montessori-Hauses hinter ihnen zufiel. Dann erst kam Mei zu Atem.
    »Wo ist meine Mommy?«
    »Sie wartet auf uns«, erklärte Doktor Strickland. »Wir bringen dich jetzt zu ihr.«
    Die neueren Gänge Ganymeds waren breit und üppig bewachsen, sodass die Luftaufbereiter nur selten laufen mussten. Die zierlichen Wedel der Arecapalmen sprossen in Dutzenden hydroponischen Pflanztöpfen. An den Wänden rankten Efeututen mit ihren breiten, gelbgrün gestreiften Blättern. Die dunkelgrünen primitiven Blätter der Sansevierien wuchsen ganz unten. Vollspektrum-LED-Leuchten strahlten weißgoldenes Licht ab. Daddy hatte ihr gesagt, so sehe das Sonnenlicht auf der Erde aus. Mei stellte sich den Planeten als riesiges, kompliziertes Gebilde aus Pflanzen und Gängen vor, über denen die Sonne als strahlende Linie
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