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Verlieb dich nie in einen Vargas

Verlieb dich nie in einen Vargas

Titel: Verlieb dich nie in einen Vargas
Autoren: Sarah Ockler
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»Verrat mir deinen Wunsch. Den wahren. Und empanadas gelten ebenfalls nicht. Du weißt, dass Mari dich jetzt auf widerliche Schonkost setzen wird.«
    »Das werden wir noch sehen.« Papi nahm meine Hände und drückte sie an seine Brust. Unter dem kratzigen Krankenhaushemd schlug sein Herz sacht gegen meine Finger, gleichmäßig, ruhig, stark. »Okay. Keine Witze mehr, mi querida . Ich möchte, dass du etwas für mich tust. Mir einen letzten Wunsch erfüllst.«
    Ich sah ihn an und lächelte. Er hatte gewonnen, sich seinen Platz auf dem Siegerpodest ergaunert. Wie gewöhnlich.
    » Sí , Papi. Alles.«
    Irgendwann nickte Papi ein. Als er die Augen wieder aufschlug, waren sie verhangen und unruhig, und er blickte sich im Raum um, als versuche er, sich zu orientieren.
    »Ich sollte … jetzt gehen«, sagte er. »Meine Familie sucht nach mir.«
    »Sie wissen Bescheid«, sagte ich sanft. Die Krankenschwester hatte mich gewarnt, dass das passieren könnte. Der Stress, die Beruhigungsmittel. Seine Erinnerungen.
    »Gut, gut. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen machen.« Hinter ihm piepste der Herzmonitor in einem beständigem Rhythmus, leuchtend grüne Anhöhen und Täler verschwammen zu einer Zickzacklinie. »Haben Sie Kinder?«
    »Nein, noch nicht«, flüsterte ich.
    Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Wir haben drei Mädchen und ein weiteres ist unterwegs. Meine Frau liegt gerade in den Wehen.«
    »Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich. »Ruhen Sie sich aus, ja?«
    Er nickte, mit leerem, höflichem Blick. Der Monitor piepste weiter, und ich saß auf dem Stuhl neben seinem Bett, bis sein Herzrhythmus sich verlangsamte und er zurück in den Schlaf driftete.
    Er sah wieder jung und unbekümmert und wohlbehalten aus, aber das war nur vorübergehend. Es gab keine Heilung; die brutale Macht, mit der die Krankheit über ihn hereingebrochen war, glich dem Animas im Frühling, sie stieg an und schwemmte alles fort, was die vorangegangenen Jahreszeiten so mühsam abgelagert hatten.
    Es heißt, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Und vielleicht war es jetzt für Papi so. Seine Erinnerungen verlagerten und veränderten sich geräuschlos unter ihm, während wir übrigen am Ufer saßen und zusahen. Es ging ihm mit jedem Tag schlechter, mit jedem Tag brauchte er länger, um zu uns zurückzufinden. Niemand konnte uns genau sagen wann, aber ich wusste es in diesem Moment – das Unvermeidliche, vor dem ich davongelaufen war, seit wir die Diagnose erhalten hatten, war eingetroffen. Und schon bald – vielleicht morgen, vielleicht nächsten Monat – würde er die Augen öffnen und mich ansehen, und keine noch so große Anzahl an Geschichten oder Videos oder Songs würde ihn daran erinnern, dass ich seine Tochter war.
    Dass wir diesen Sommer zusammen verbracht und seine alte Harley repariert hatten.
    Dass er mich liebte.
    Mein Vater würde fort sein.
    Aber Emilio und ich hatten ihm diese letzte Fahrt geschenkt. Und einen Moment lang war er lebendiger gewesen, als ich ihn je erlebt hatte. Nicht früher irgendwann, sondern jetzt. Aus diesem Grund lächelte ich trotz der Tatsache, dass ich ihn Stück für Stück verlor.
    » Te quiero , Papi«, flüsterte ich.
    »Ich dich auch, Jude.« Seine Stimme klang erschöpft und belegt von den Medikamenten, aber er hatte meinen Namen gesagt, da war ich mir sicher, und ich klammerte mich an diese Worte und verstaute sie in meinem Herzen.
    Leck mich, Alzheimer.
    Ich blieb am Eingang zum Wartezimmer stehen und lehnte mich an die Wand. Mein Herz war seltsam leicht, von Frieden erfüllt. Mom war eingetroffen, sie saß auf einem der harten Plastikstühle und presste den Rücken an die Lehne, Celis Kopf massierte ihre linke Schulter. Auf dem Stuhl rechts von ihr saß Lourdes. Sie hielt sich aufrecht und streichelte Mom abwesend über die Haare. Mari saß ihnen gegenüber, und als unsere Blicke sich trafen, nahm ich an, sie würde mich vielleicht zu sich winken und mich um den neuesten Stand bitten.
    Aber sie grinste mich nur an und legte den Kopf schief, und wir teilten einen Moment stummen Einvernehmens. Ihr Blick wanderte zur Seite, und meiner folgte ihm zu dem Jungen, der neben ihr saß und an seinem Daumennagel kaute.
    Emilio Vargas hob den Kopf und sah mir quer durch das Wartezimmer in die Augen.
    Ich senkte den Blick und lächelte. Zaghaft. Zitternd. Und dann hob ich ihn wieder, auf das Schlimmste gefasst und zugleich auf eine Chance hoffend.
    Jene Grübchen verrieten
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