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Ann Pearlman

Ann Pearlman

Titel: Ann Pearlman
Autoren: Apfelblüten im August
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1
    Auf der Schwelle
    Sky
    J eder Tag ist ein Balanceakt zwischen Normalität und Tragödie.
    Mit diesem Gedanken schrecke ich aus dem Schlaf.
    3 Uhr 42, verkünden die grünen Ziffern auf meinem Wecker. Der Rest des Zimmers liegt im Dunkeln, durchdrungen nur von dem grünen Lichtstrahl. Warum wache ich jeden Morgen genau um die gleiche Zeit auf? 3 Uhr 42. Als hätte Mias Tod mir eine innere Weckzeit eingepflanzt.
    Troy liegt da, eingekuschelt, mit gefalteten Händen.
    Aus Rachels Zimmer kommt kein Laut.
    Die Klimaanlage springt an.
    Manche Menschen schleichen vorsichtig auf Zehenspitzen an den Abgründen vorbei, die sich zu beiden Seiten unseres Lebensweges auftun, andere hüpfen fröhlich weiter und ignorieren sie. Und ich? Ich dachte, wenn ich immer schön geradeaus gehe, wenn ich mein Ziel fest im Auge behalte und unterwegs erledige, was ansteht, dann bin ich in Sicherheit. Mein Plan war, mir ein gutes Sicherheitsnetz zu weben, um lauerndes Unheil abzuwenden.
    Ich hatte immer das Gefühl, dass mein Vater selbst schuld war, dass er gestorben ist. Was sonst soll ein Kind auch denken, wenn die Eltern ihm allmächtig erscheinen?
    Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hat mich sein Tod getroffen, wie ein sonderbares, tödliches Fingerschnippen. Gerade noch hatte er mich auf der Schaukel angeschubst, mit ausgestreckten Armen, so dass ich über seinem Kopf schwebte, hatte »Flieg, Sky, flieg«, gerufen und mich so hoch emporschweben lassen, dass ich mit den Zehen fast die Wolken berührte. Ich sah die Sonne auf seinen Haaren schimmern, ich sah die roten und gelben Herbstblätter, verschwommen, weil ich so schnell an ihnen vorbeisauste. Oder habe ich diese letzte Erinnerung an meinen damals noch gesunden Vater so gehegt und gepflegt, dass ich die Bäume im Park selbst hinzugedichtet habe, weil ich sie so gut kenne, obwohl in Wirklichkeit nur der Himmel zu sehen war, der Himmel und der Wind auf meiner Haut, der mich streichelte, während ich zu ihm emporflog?
    Am nächsten Tag wurde mein Vater ins Krankenhaus gebracht.
    Eine Woche später war er tot.
    Ich war sieben Jahre alt.
    Er war vierunddreißig.
    Damals versuchte Mom mir einzureden, dass er immer in meiner Nähe bleiben und mich immer lieben würde. Aber ich sah nur, wie ihre Zunge beim Sprechen ihre Zähne berührte und wie ihre Lippen sich bewegten, und was sie sagte, ergab für mich überhaupt keinen Sinn.
    Und so ist es bis heute geblieben.
    In meiner Klasse war ich die Einzige, deren Vater gestorben war, und die anderen Kinder ignorierten mich, als wäre der Tod eines Vaters eine ansteckende Krankheit. Bis zum ersten Jahr in der Highschool kannte ich niemanden in meinem Alter, der einen toten Vater hatte. Dann starb der Vater eines Mitschülers an einem Herzinfarkt. Eine Woche lang fehlte der Junge, die anderen flüsterten, und als er zurückkam, lachte er über einen Witz, als wäre nichts geschehen. Ich kannte dieses Spiel, weil ich es als Siebenjährige auch gespielt hatte. Wenn man so tut, als wäre alles normal, dann ist es vielleicht auch so, wenigstens für ein paar Minuten. Und manchmal, manchmal funktioniert das sogar, was gleichzeitig beängstigend und beglückend sein kann.
    Für ein paar Minuten vergisst man, dass man einen toten Vater hat.
    3 Uhr 45.
    Aber ich schweife ab. Ich weiß wirklich nicht, warum ich jeden Morgen an ihn denken muss. Vermutlich, weil sein Tod eine schreckliche Veränderung war, die mein Leben völlig aus der Bahn geworfen hat. Manche Dinge passieren plötzlich, andere bahnen sich langsam an. Zum Beispiel, wenn man nach langem Kampf an Krebs stirbt. Aber ich konnte mich nicht darauf vorbereiten, ich hatte nicht mal Zeit, Angst zu haben. Es ist einfach passiert.
    Peng.
    Manchmal überlege ich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn mein Vater nicht gestorben wäre.
    Erste Möglichkeit: Tara wäre nicht meine Schwester.
    Wahrscheinlich hätte ich eine andere Schwester. Oder einen Bruder.
    Tara war ein peinliches Kind, aus dem ein rebellischer Teenager wurde. Sie war mir überhaupt nicht ähnlich. Vermutlich kommt es zum Teil daher, dass wir unterschiedliche Väter haben.
    Aber am meisten Gedanken mache ich mir wegen Troy. Ich habe Troy in der achten Klasse kennengelernt, und seither sind wir unzertrennlich. Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Mädchen, die ohne Vater aufgewachsen sind, oft frühe und rasch wechselnde sexuelle Beziehungen eingehen, um die Sehnsucht nach einem Mann in ihrem Leben zu stillen. Ich denke, ich
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