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Das Kind

Titel: Das Kind
Autoren: Sebastian Fitzek
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1.
A ls Robert Stern vor wenigen Stunden diesem ungewöhn lichen Treffen zugestimmt hatte, wusste er nicht, dass er damit eine Verabredung mit dem Tod einging. Noch weniger ahnte er, dass der Tod etwa hundertdreiundvierzig Zentimeter messen, Turnschuhe tragen und lächelnd auf einem gottverlassenen Industriegelände in sein Leben treten würde. »Nein, sie ist noch nicht da. Und ich habe langsam keine Lust mehr, auf sie zu warten.«
Stern sah entnervt durch die regennasse Windschutzscheibe seiner Limousine auf das fensterlose Fabrikgebäude in hundert Metern Entfernung vor ihm und verwünschte seine Anwaltsgehilfi n. Sie hatte vergessen, die Verabredung mit seinem Vater abzusagen, der in diesem Augenblick wütend an der anderen Leitung hing.
»Rufen Sie Carina an und fragen sie, wo sie verdammt noch mal bleibt!«
Stern drückte energisch auf einen Knopf am Lederlenkrad, und nach einem atmosphärischen Knacken hörte er seinen Alten Herrn über die Lautsprecher husten. Der 79-Jährige rauchte ununterbrochen. Jetzt hatte er sich sogar für die kurze Zeit in der Warteschleife eine Zigarette angesteckt. »Tut mir leid, Papa«, sagte Stern. »Ich weiß, wir wollten heute zu Abend essen. Aber wir müssen das auf Sonntag verschieben. Ich bin zu einem völlig unerwarteten Termin gerufen worden.«
Du musst kommen. Bitte. Ich weiß nicht mehr weiter. Noch
nie zuvor hatte Carinas Stimme am Telefon so ängstlich geklungen wie vorhin. Wenn es geschauspielert gewesen war, verdiente sie einen Oscar.
»Vielleicht sollte ich dir auch fünfhundert Euro die Stunde zahlen, damit ich dich mal wieder sehe«, fauchte sein Vater wütend.
Stern seufzte. Er besuchte ihn dreimal die Woche, aber es hatte überhaupt keinen Sinn, das jetzt zu erwähnen. Weder die Hundertschaften gewonnener Strafprozesse noch die verlorenen Schlachten seiner zerrütteten Ehe hatten ihn lehren können, wie er in einer Auseinandersetzung mit seinem Vater die Oberhand behielt. Sobald er mit dem Alten diskutierte, fühlte er sich wieder wie das kleine Kind mit den schlechten Schulnoten, und nicht wie der fünfundvierzigjährige Robert Stern, Seniorpartner von Langendorf, Stern und Dankwitz, den führenden Strafverteidigern Berlins. »Ich habe, ehrlich gesagt, nicht die leiseste Ahnung, wo ich hier gerade bin«, versuchte er die Unterhaltung aufzulockern. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, irgendwo in Tschetschenien. Mein Navigationssystem hat nur mit Mühe hierhergefunden.« Er schaltete das Fernlicht seines Wagens an und leuchtete damit Teile des ungepfl asterten Vorplatzes aus, auf dem sich abgerissene Stahlträger, verrostete Kabelrollen und anderer Gewerbemüll türmten. Vermutlich waren hier einmal Farben und Lacke hergestellt worden, wenn er den Berg leerer Metallfässer richtig interpretierte. Vor der baufälligen Backsteinbaracke mit dem eingefallenen Schornstein sahen sie aus wie die Requisiten eines Weltuntergangsfi lms.
»Hoffentlich fi ndet dein Navigationsdingsbums später einmal den Weg zu meinem Grab«, hustete der Vater, und Stern fragte sich, ob diese Verbitterung erblich war. Immerhin
trug er sie ansatzweise in sich selbst. Seit nunmehr zehn Jahren.
    Seit Felix.
Die traumatischen Erlebnisse damals auf der Säuglingsstation hatten ihn auch äußerlich seinem Vater nähergebracht. Stern war vorzeitig gealtert. Früher war er noch jede freie Minute auf dem Basketballplatz gestanden, um seine Wurftechnik zu verbessern. Heute traf er kaum den Papierkorb seines Büros, wenn er vom Schreibtisch aus eine leere Getränkedose entsorgen wollte.
Die meisten Menschen, die ihm nicht zu nahekamen, ließen sich vielleicht durch seine großgewachsene, schlanke Gestalt und die breiten Schultern täuschen. In Wahrheit versteckten die perfekt sitzenden Maßanzüge seine mittler weile untrainierten Muskeln, die Augenringe wurden durch eine naturgegebene Dauerbräune kaschiert, und ein geschickter Schnitt seiner dunklen Haare verhinderte, dass die lichten Stellen über den Schläfen durchschimmerten. Morgens brauchte er nun fast eine Stunde, um die Müdigkeit aus seinem Gesicht zu schrubben, und wenn er das Bad verließ, fühlte er sich mehr und mehr wie eine lebendige Mogelpackung; ein aufpoliertes Designermöbelstück, dessen verborgene Macken erst sichtbar wurden, wenn man es im schonungslosen Deckenlicht des heimischen Wohnzimmers aufgestellt hatte.
Es klopfte in der Leitung an.
»Entschuldige, ich bin gleich wieder dran«, fl oh Stern vor
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