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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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…«
    Jemand dort draußen musste sofort einen Funkspruch abgesetzt haben! Wieder umarmten sich Erwachsene, wieder flossen Tränen. Stimmen riefen durcheinander wie Meeresrauschen.
    »Die Treppe zum Oberlan d … noch da! Die Nordspitz e … unversehrt!«
    »Was ist mit dem Hafen? Weiß jemand, was mit dem Hafen ist?«
    Mehr Menschen strömten herbei. Hieß das, es war wah r …? In den letzten beiden Jahren hatte ich zu oft vergeblich gehofft, als dass ich an die Erfüllung von Wünschen noch glauben konnte; trotzdem schubste und drängte ich uns den Weg frei nach vorn zum Kai, Ooti und Leni im Schlepp.
    Gustavs Vater hatte einen Reporter mit umgehängter Kamera an Bord seines kleinen Kutters genommen und wollte soeben ablegen, aber als Gustav mich sah, winkte er aufgeregt.
    »Keine Ahnung, ob sie uns schon in die Nähe lassen, aber wir hätten noch einen Platz!«, rief er mir zu.
    Ooti und ich sahen uns an.
    »Und wir«, rief ich zurück, »hätten noch einen Reporter!«
    Und so kam es, dass der erste Artikel, den mein Bruder Henry in unserer Helgoländer Zeitung schrieb, die bald darauf erscheinen durfte, davon handelte, dass unsere Insel noch da war und auf uns wartete. Dass das Unterland noch da war und das Oberland, dass aus der gesprengten Südspitze ein Mittelland entstanden war. Dass die Lummen wie in jedem Jahr an der Nordspitze ihre Jungen aufzogen, eng an den Felsen geschmiegt, bis sie sich mit todesmutigem Sprung in die Tiefen der Nordsee stürzten. Dass auf der Düne, hinter den verwitternden Resten des alten Militärflughafens und der noch älteren Badehäuschen, Seehunde ihren gewohnten Platz einnahmen. Dass Abertausende Zugvögel in jedem Frühjahr und jedem Herbst im Oberland Rast hielten, wie sie es seit jeher getan hatten.
    Helgoland wartete auch noch auf uns, als die Royal Air Force begann, im Tiefflug über die Insel zu jagen und Bombenabwürfe zu trainieren, als ihre Jagdflugzeuge unzählige weitere Krater rissen und die Ruinen unserer Häuser endgültig dem Erdboden gleichmachten. Als das britische Parlament beschloss, das militärisch wichtige Gebiet nie wieder aufzugeben. Als eine Helgoländer Kolonie auf Sylt gegründet wurde.
    Als das erste Helgoländer Heimattreffen stattfand, die ersten Alten starben. Als Foor zurückkehrte, als die D-Mark eingeführt wurde, sich über Nacht die Läden füllten und der Schwarzmarkt verschwand. Als Graber endlich in Rente gin g – mit fünfundsiebzig und bei bester Gesundheit! Als Gustav und ich vom Roten Kreuz Antwort bekamen, Herr Geiger und Frau Wertheim seien nicht mehr auffindbar, »wahrscheinlich ums Leben gekommen«.
    Als Larsens in die russische Zone auswanderten in der Hoffnung auf ein eigenes kleines Gehöft, als Sandra Bolle einen Tommy heiratete. Als ich nie wieder von Wim und Nora hörte.
    Als nicht mehr gehungert wurde. Als erst Henry, dann ich die Schule beendeten, als ich operiert wurde und ein neues, wunderbares, perfekt sitzendes Bein bekam. Als es mit Deutschland wieder aufwärtsging, weil nun Russland der Feind war und wir in einer neuen Allianz gebraucht wurden.
    Die ganze Zeit wartete unsere Insel, sah Jahreszeiten kommen und gehen und bot den Fischern Schutz, wenn sie bei stürmischer See in den Ruinen des Hafens anlegten.
    Wartete sieben Jahre. Bis wir endlich nach Hause durften.

Nachwort

    Binnen zwei Mittagsstunden des 18 . April 1945 zerstörten rund eintausend britische Bomber die Nordseeinsel Helgoland. Vorausgegangen war am selben Morgen die Verhaftung einer Gruppe von Helgoländern und auf der Insel stationierter Soldaten, die sich das Ziel gesetzt hatten, die nationalsozialistische Kommandantur zu überwältigen und die »Festung Helgoland« kampflos an die Briten zu übergeben. Viele kleine und größere Kommandanten, aber auch Bürgermeister standen in diesen letzten Wochen des Krieges, als die deutsche Niederlage sich längst abzeichnete, vor derselben Entscheidung: den fanatischen Durchhaltebefehlen aus Hitlers Reichkanzlei oder der eigenen Vernunft zu gehorchen.
    Wer oder was verriet den Plan der kampflosen Übergabe? Unmittelbar nach der Verhaftungsaktion war, wie aus dem Bericht des Inselarztes Dr . Walter Kropatscheck hervorgeht, von einem jungen Fähnrich die Rede, der die Nerven verloren haben soll; ursächlich scheinen aber eher abgefangene Funksprüche gewesen zu sein. Offenbar wurden die »Verschwörer« schon Wochen vor dem Zugriff beobachtet. Bis auf einen Mann, der während des Bombenangriffs aus seiner
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