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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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eine neue bekomme, wenn ich aufhöre zu wachsen. Ich darf mich nicht prügeln, beim Tanzen nicht drehen, Hamsterfahrten sind auch nichts für mich, aber ansonsten kann ich fast alles tun. Es dauert jetzt nur länger.«
    Gustav knetete nachdenklich seine Unterlippe. »Tut es weh?«
    »Manchmal schon«, gab ich zu. »Aber es wird besser. Langsam komme ich dahinter, was das Bein will.«
    »Will es wieder arbeiten? Mein neuer Boss könnte noch jemanden brauchen.«
    »Einen Springe r …?«, fragte ich spöttisch.
    »Ich wäre ja schließlich auch noch da«, meinte Gustav und wurde rot.
    Es war ein sinnloses Unterfangen, Herrn Geigers Handschrift zu entziffern. Große, zackige Buchstaben streuten sich über das Papier wie die Ausschläge eines Seismografen; hätte er seine Adresse nicht auf die Briefe an Herrn Goldstein gestempelt, hätte ich ihm damals gar nicht schreiben können.
    Wenngleich ein halbes Jahr vergangen und kaum noch damit zu rechnen war, dass Herr Geiger und Frau Wertheim sich von selbst melden würden, kostete es mich Überwindung, die Briefe aus den Umschlägen zu nehmen. Sie waren nicht an mich gerichtet, was sollten sie mir zu sagen haben? Die unleserliche Schrift von Herrn Geiger schien genau dies ausdrücken zu wollen: dass seine Briefe mich nichts angingen.
    Die kleine, ordentliche Handschrift von Frau Wertheim jedoch konnte ich mühelos lesen.
    »Lieber Daniel, die Nachrichten von deiner und meiner Mutter sind nicht gut. Heute wieder Rotkreuzpost aus dem KZ Theresienstadt, wortgenau desselben Inhalts wie die beiden Letzten und mit demselben Stift, vermutlich also am selben Tag vor vier Monaten geschrieben. Wir wissen beide, was das bedeutet. M. und C. sind letzte Woche weg, ich füttere den Kater oben bei ihnen, ich habe ihn nicht mehr heruntergeholt, weil mein Bescheid auch jeden Tag kommen kann. Fast bin ich froh, wenn das Warten vorbei ist. Vielleicht auch Theresienstadt? Dann habe ich trotz allem Hoffnung, Mutter zu finden.
    Lieber Daniel, du hast gut reden, du hast in der Großstadt Möglichkeiten, während mich hier jeder kennt. Wer sollte mir helfen? Die S. steckt mir Lebensmittel zu, obwohl es die halbe Nachbarschaft weiß, aber eine sichere Adresse, wie du es nennst, gibt es nicht. Ich bin kräftig, ich kann arbeiten, ich werde es schon irgendwie überstehen. Und wer weiß, im Osten dreht sich schon der Wind, vielleicht müssen wir nicht mehr lange ausharren. Aber ob das den Alten noch hilft? Hast du von P’s gehört und von J.? Grüße, Sonia.«
    Der zweite und letzte Brief bestand nur aus einem einzigen Absatz.
    »Lieber Daniel, es ist so weit, übermorgen einfinden mit einem Gepäckstück für die Reise usw., G’s auch dabei. Habe S. meine Kakteen gebracht, T. ein paar Bücher, er besohlt mir noch die Schuhe. Kaffeeservice getauscht gegen wärmeren Mantel, falls nach Osten. Bin jetzt ganz ruhig, auf alles gefasst, nicht einmal ohne Hoffnung, dankbar dass ohne Kinder! Lieber, ich umarme dic h – bis wir uns wiedersehen, für immer deine Sonia.«
    Frau Wertheim war eine schmale Frau mit ernstem Gesicht und dunklen, etwas umschatteten Augen. An ihrem Spitzenkragen, dort wo das Foto aufhörte, saß eine kleine Brosche. Auf einem anderen Bild stand Herr Goldstein neben ihr, steif und ernst wie zu einem offiziellen Anlass, jünger, aber dennoch gut zu erkennen. Ein Verlobungsbild vielleicht.
    Was ist dir passiert?
    Willst du es wirklich wissen?
    Das Leben um die Nissenhütten schien zum Stillstand gekommen zu sein, die Fenster von innen zugefroren, der Platz menschenleer. Ooti hatte mir aufgetragen, bei Grete Broders vorbeizusehen, aber sie war nicht da. Leni ging es besser, doch sie lag noch immer im Krankenhaus und ihre Mutter, die sie inzwischen besuchen durfte, blieb so lange, bis man sie hinauswarf. Krankenhäuser gehörten zu den wenigen Orten, die noch geheizt wurden.
    Von Larsens Hütte stieg dünner Rauch auf. Die meisten Bewohner hielten sich tagsüber in einer Wärmestube auf, aber Larsens zogen die Hütte vor, in der es kalt, aber ruhig war.
    »Mutti hat auf dieses Wetter nur gewartet. Endlich wieder etwas Privatleben«, meinte Sigrid und bot mir an, zu sich und Sonja unter die Decke zu schlüpfen. Ich zögerte nur kurz. Frost hing im Inneren der Hütte, die Wellblechwand trug eine dünne Reifschicht, aber unter der Decke steckte auch bei Larsens ein heißer Ziegelstein.
    Frau Larsen setzte einen zerbeulten Teekessel auf, dessen Dampf die Eisblumen am oberen Fensterrand zum
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