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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Schmelzen brachte. Während das Wasser heiß wurde, eilte sie geschäftig hin und her, um sich warm zu halten; erst als wir alle unseren Tee in Händen hielten, setzte sie sich auf einen Stuhl vor das Bett und schob die Füße zu uns unter die Decke.
    »Dann mal los«, sagte sie ernst. »Was willst du mich fragen, Alice?«

18. April 1947

    Am Ende waren wir doch zwei Helgoländer Familien im Kiekebuschweg. Als Ooti den Vorschlag machte, fand Frau Kindler, es käme auf eine Familie mehr oder weniger nicht an, das Zimmer stünde nun ohnehin leer und es sei höchst unwahrscheinlich, dass Wollanks zurückkehrten. Noch vor Weihnachten zogen Broders bei uns ein und es war Leni, neben der ich am Deich in Cuxhaven stand und durch Tränenschleier eine riesige schwarze Rauchsäule von der Stelle aufsteigen sah, an der bis vor einer Minute unsere Insel gewesen war.
    Der Donnerhall der Explosion hatte die Fensterscheiben ringsum zum Klirren gebracht, der Boden vibrierte, gespannt warteten alle, ob der Detonation eine spürbare Welle folgen würde. Kaum war der Widerhall der Sprengung verklungen, schlichen auch schon die ersten Reporter herbei, um die Gefühle der Helgoländer hautnah einzufangen. Aber die »Hallunner Moats« hatten noch nie zu den Leuten gehört, die viel reden; nur zwei Männer vom Helgoland-Komitee gaben vorbereitete Stellungnahmen ab.
    Ich hatte gewusst, dass es passieren würde. Seit Wochen hatte ich mich auf diesen Tag eingestellt, aber jetzt, wo es vorbei war, kam mir alles unglaublicher vor denn je und ich konnte nicht begreifen, dass die Tommys es wirklich getan hatten. Der hämische Ton ihrer Zeitungsberichte über uns klang mir noch in den Ohren, während die Rauchwolke an den Rändern zerfetzte und übers Meer davongetragen wurde. Draußen, auf den Kriegsschiffen der Engländer, musste jetzt frenetischer Jubel ausgebrochen sein.
    Ich war ihnen nicht gram gewesen wegen der Sache mit meinem Bein, ich nahm ihnen nicht einmal die Zerstörung vor zwei Jahren übel, die Teil des Krieges gewesen war. Aber jetzt wallte etwas Wildes, Glühendes in mir auf, ein Zorn jenseits allen Zorns, den ich bisher gekannt hatte. Der Krieg, den wir Deutschen angezettelt hatten, war vorbe i – seit zwei Jahren vorbei! Ich begann gerade erst zu verstehen, was wir getan hatten, was »Kazett« bedeutete und dass wir es nie wiedergutmachen konnten.
    Doch wieso fingen die Tommys jetzt noch einmal an mit Kriegsschiffen, mit Bomben, mit sinnloser Zerstörung? Diesmal hatten wir nichts getan! Wie sollte ich ihnen je wieder etwas glauben?
    Ich steckte eine Hand in die Manteltasche und fühlte den kleinen glatten Stein, den Gustav mir geschenkt hatte. Er war kalt. Über uns knatterte ein Hubschrauber, der vom Strand aufgestiegen war, um Reporter in die Nähe des Geschehens zu bringen, sobald die Sperrmeilen aufgehoben worden waren.
    »Alice!«, flüsterte plötzlich Leni und drängte sich an mich, ihr Gesicht erstarrt.
    Denn natürlic h – sie kannte ihn ja, sie hatte ihn gezeichnet! Warum war ich eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, unter den Helgoländern, die an diesem Tag nach Cuxhaven kamen, könne auch er sein?
    »Dein Bruder ist auch hier?«, fragte er und blieb abrupt vor mir stehen.
    Ich nickte stumm. Henry war bei Mem, Ooti und Frau Broders geblieben, die hemmungslos weinten, seit sie die ersten unserer früheren Nachbarn wiedererkannt hatten. Leni und ich hatten es nicht ausgehalten und waren ein ganzes Stück auf dem Deich weitergelaufen.
    »Ist dein Foor zurück?«, wollte der Mann wissen, den wir für den Verräter gehalten hatten.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und antwortete: »Nein, er ist noch in Belgien, aber wir rechnen jetzt jeden Tag mit ihm. Er hat schon Pakete vorausgeschickt.«
    »Wenn er kommt, sag ihm, dass ich noch etwas habe, was euch gehört«, forderte er mich auf und ging weite r – zum Glück nicht in die Richtung, in der Henry stand! Ich hoffte für meinen Bruder, dass sie einander nie wieder sehen mussten.
    »Wovon redet er?«, wisperte Leni, aber ich wich aus: »Vielleicht kennt er meinen Foor von früher.«
    Ich hatte nicht die Absicht, Leni, Foor oder irgendjemandem zu sagen, was an dem Tag in Lüneburg vorgefallen war. Der Verräter blieb Henrys und mein Geheimnis und der Einzige, dem ich je davon erzählte, blieb Wim. Wim, an den ich immer noch Tag für Tag dachte, und der sich Tag für Tag weiter entfernte, wie ein Traum, den man sich sträubt zu vergesse n – bis man plötzlich
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