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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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18. April 1947
Neun Seemeilen vor der Insel Helgoland

    »Gibt es eine Zeitung, eine Rundfunkstation, eine Presseagentur, die an diesem Frühlingstag keinen Vertreter entsandt hat? Ein Dutzend Boote treibt in sicherer Entfernung des roten Felsens, der wie eine Burg aus ruhiger See ragt, darüber ein makelloser blauer Himmel. Ein ahnungsloser Fels? Sicher nicht. 670 0 Tonnen Munition sind in den vergangenen Monaten über die Nordsee transportiert und im kilometerlangen Tunnellabyrinth der Insel verstaut worden. Wasserbomben, Granaten und Torpedosprengköpfe sollen das Werk vollenden, das die Royal Air Force auf den Tag genau vor zwei Jahren begonnen hat. Am 18 . April 1945 machten eintausend Bomber in zwei großen Angriffswellen die Insel Helgoland unbewohnbar, am 18 . April 1947 wird das kleine Eiland, kaum zwei Quadratkilometer groß, für alle Zeit in den Wellen der Nordsee versinken.
    In den nächstgelegenen Küstenstädten sind Vorkehrungen getroffen worden, die Bewohner aufgerufen, Türen und Fenster zu öffnen, da die Wucht der Detonation auch auf dem knapp sechzig Kilometer entfernten Festland erwartet wird. Seit Stunden kreisen Beobachtungsflugzeuge über der Insel, deren gewaltige militärische Anlagen trotz ihrer bereits weitgehenden Zerstörung im Kriege noch gut zu erkennen sin d – die ›Festung Helgoland‹, die in wenigen Augenblicken Geschichte sein wird.
    Zu dem von Pressevertretern gecharterten Boot, das im vorgeschriebenen Abstand um die Insel kreist, kommen ein Dutzend britischer Kriegsschiffe. Von einem dieser Schiffe soll um Punkt 1 3 Uhr die Explosion gezündet werden. Da! Ein Donnerschlag erfüllt die Luf t … aber nein, es ist noch nicht der Big Bang , wie die Engländer die umstrittene Sprengung nennen, es ist der Warnschuss für Tausende Seevögel, die wie jedes Frühjahr an der Nordspitze der Insel ihre Jungen aufziehen. Wilder Taumel unzähliger Flügel, ein grandioses Schauspie l – zum letzten Mal.
    Der Warnschuss für die Seevögel war das Signal, die Sprengung Helgolands steht jetzt unmittelbar bevor. Alle Gedanken gehen in diesem Augenblick zu dem heimatlosen Inselvolk, das sich aus zahlreichen Orten Schleswig-Holsteins, in denen es Asyl fand, heute am Deich in Cuxhaven eingefunden hat, um der Hinrichtung seiner Insel beizuwohnen. Alle Bitten und Petitionen, die vom Helgoland-Komitee an das britische Parlament, die Vereinten Nationen, sogar an den Papst gerichtet wurden, waren vergebens. Zwei Jahre nach Kriegsende werden auf deutschen Boden noch einmal Bomben fallen, und es ist nicht irgendeine Explosion, deren Zeugen wir in wenigen Augenblicken werden, es ist die größte nicht nukleare Sprengung, die die Welt bisher erlebt hat.
    Jetzt. Ein Blitz, ein einziger heller Blitz, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Detonation, deren Druckwelle die Schiffsplanken zum Ächzen bringt. Ein Feuerschein liegt über dem Plateau des Oberlands, Trümmerregen ergießt sich ins Unterland, aufgewühltes Wasser, als hebe sich die Nordsee selbst von ihrem Grund. Und schon sind Konturen nicht mehr zu erkennen, schon ist die Insel verschwunden, eingehüllt in einer schwarz-roten Wolke, aus der eine Rauchsäule unfassbaren Ausmaßes zum Himmel steigt.
    Denken Sie an die Insel Helgoland, liebe Zuhörer, an diese kleine, zerklüftete, herb-schöne Insel, die so vielen Erholungssuchenden lieb gewordenes Ausflugsziel war, bevor die Nationalsozialisten sie zur Nordseefestung aufrüsteten und ihr Schicksal besiegelten. Denken Sie an die Helgoländer, die nun weinend auf dem Deich in Cuxhaven stehen und der schwarzen Wolke nachblicken. Bis zuletzt haben sie gehofft. Die Insel Helgoland und ihr starkes, raues Friesenvolk, das allen Stürmen getrotzt und auf dem kargen Eiland über Jahrhunderte ein Auskommen gefunden hatte, sind seit einer Minute Geschichte.«

1
Dreizehn Monate zuvor

    Sie standen noch an derselben Stelle, als wir aus der Schule zurückkame n – die Mutter in einen weiten blauen Umhang gehüllt, um sich gegen den Nieselregen zu schützen, der Sohn auf dem Rand des einzigen Koffers sitzend, den sie dabeihatten. So wie der Koffer sich bog, war fast nichts darin, der Junge hockte keine dreißig Zentimeter über dem Boden. Er hatte die Nase in einem Buch, als ginge ihn das alles nichts an, aber als wir sie aus dem Küchenfenster beobachteten, stellten wir fest, dass er die Seiten nicht umblätterte. Eine dunkle Haartolle hing ihm ins Gesicht. Ich schätzte, dass er etwa in unserem Alter sein
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