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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger
Autoren: Jeffery Deaver
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    KÖNIG FÜR EINEN TAG
    In New York ist die Gegenwart so mächtig,
daß die Vergangenheit vergessen ist.
    John Jay Chapman
     
     
    Freitag, 22.30 Uhr, bis Samstag, 15.30 Uhr
     
    EINS
    Sie wollte nur noch schlafen.
    Die Maschine war mit zwei Stunden Verspätung gelandet, und sie hatten ewig lange auf das Gepäck warten müssen. Und dann hatte auch noch die Mietwagenfirma Mist gebaut - die Limousine war vor einer Stunde weggefahren. Deshalb mußten sie jetzt auf ein Taxi warten.
    Sie stand mit den anderen Passagieren in der Schlange, die schlanke Gestalt leicht zur Seite geneigt, um das Gewicht des Laptop-Computers auszugleichen, den sie über der Schulter hängen hatte. John quasselte unentwegt über Zinssätze und neue Möglichkeiten zur Umschichtung des Transitgeschäfts, doch sie konnte nur noch an eins denken: Freitag abend, halb elf. Ich will mir bequeme Klamotten anziehen und mich hinhauen.
    Sie musterte den endlosen Strom der gelben Taxis. Irgend etwas an der Farbe und der Gleichförmigkeit der Wagen erinnerte sie an Insekten. Und sie erschauderte leicht, spürte wieder dieses gruslig-krabbelige Gefühl, das sie aus ihrer Kindheit in den Bergen kannte, wenn sie und ihr Bruder einen toten Dachs mit heraushängenden Eingeweiden gefunden oder einen Waldameisenhaufen umgetreten und das Gewusel feuchter Beine und Leiber betrachtet hatten.
    T. J. Colfax trat vor, als das nächste Taxi kam und mit quietschenden Bremsen anhielt.
    Der Fahrer ließ den Kofferraumdeckel aufspringen, blieb aber im Wagen sitzen. Sie mußten ihr Gepäck selbst einladen, was John sauer aufstieß. Er war es gewohnt, daß man ihn bediente. Tammie Jean störte sich nicht daran; sie war gelegentlich immer noch überrascht, daß sie eine Sekretärin hatte, die ihre Korrespondenz tippte und verwaltete. Sie warf ihren Koffer hinein, schlug den Deckel zu und setzte sich in den Wagen.
    John stieg nach ihr ein, knallte die Tür zu und wischte sich über das schwammige Gesicht und die beginnende Glatze, so als hätte er sich beim Verstauen seiner Reisetasche völlig verausgabt.
    »Zuerst zur Zweiundsiebzigsten Ost«, brummte John durch die Trennscheibe.
    »Danach zur Upper West Side«, fügte T. J. hinzu. Das Plexiglas zwischen den Vordersitzen und dem Fond war völlig verkratzt, so daß sie den Fahrer kaum sehen konnte.
    Das Taxi schoß davon und rollte kurz darauf über die Stadtautobahn in Richtung Manhattan.
    »Schau«, sagte John. »Daher die vielen Menschen.«
    Er deutete auf eine riesige Reklametafel, auf der die Delegierten zu der am Montag beginnenden UN-Friedenskonferenz willkommen geheißen wurden. Rund zehntausend Besucher sollten in der Stadt weilen. T. J. betrachtete die Reklametafel - Schwarze, Weiße und Asiaten, alle lachten und winkten. Irgend etwas störte an diesem Bild. Die Proportionen und die Farben stimmten nicht. Und die Gesichter wirkten alle viel zu blaß.
    »Leichenräuber«, murmelte T. J.
    Sie rasten über die breite Stadtautobahn dahin, die schmutziggelb im Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte. Vorbei am alten Navy Yard, vorbei an den Piers von Brooklyn.
    John hörte endlich auf zu reden, holte seinen Taschenrechner heraus und tippte irgendwelche Zahlen ein. T. J. lehnte sich zurück, blickte hinaus auf die flirrenden Bürgersteige und die mürrischen Mienen der Menschen, die auf den Vordertreppen der Sandsteinhäuser entlang der Stadtautobahn hockten. Sie wirkten wie besinnungslos vor Hitze.
    Auch im Taxi war es ziemlich heiß. T. J. streckte die Hand nach dem Knopf aus, mit dem sich das Fenster senken ließ. Sie war nicht weiter überrascht, als er nicht funktionierte. Sie griff über John hinweg. Der Fensterheber auf seiner Seite war ebenfalls kaputt. Erst dann stellte sie fest, daß die Türverriegelungen fehlten.
    Die Türgriffe ebenfalls.
    Ihre Hand glitt über die Tür, tastete nach der Griffnabe. Nichts - als hätte sie jemand abgesägt.
    »Was ist?« fragte John.
    »Tja, die Türen ... Wie kriegen wir die wieder auf?«
    John schaute von der einen zur anderen, als das Hinweisschild auf den Midtown Tunnel auftauchte und vorbeihuschte.
    »He!« John klopfte an die Trennscheibe. »Sie haben die Ausfahrt verpaßt. Wo wollen Sie hin?«
    »Vielleicht fährt er über die Queensboro«, meinte T. J. Die Strecke über die Brücke war zwar weiter, aber man sparte dadurch die Tunnelmaut. Sie setzte sich auf und klopfte mit ihrem Ring an das Plexiglas.
    »Fahren Sie über die Brücke?«
    Er beachtete sie
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