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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV
Autoren: Karl May
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ERSTES KAPITEL
    Vorzeichen
    Es war in der Frühe eines schönen, warmen, hoffnungsreichen Frühlingstages. Ein lieber, lieber Sonnenstrahl schaute mir zum Fenster herein und sagte: „Grüß dich Gott!“ Da kam das ‚Herzle‘ aus ihrem Erdgeschoß herauf und brachte mir die erste Morgenpost, die soeben vom Briefträger abgegeben worden war. Sie setzte sich mir gegenüber, wie alltäglich mehrere Male, so oft die Briefe kommen, und öffnete zunächst die Kuverts, um mir dann den Inhalt vorzulesen. Aber noch ehe sie damit beginnen kann, höre ich die Frage klingen: „Wer ist das ‚Herzle‘? So heißt doch eigentlich niemand. Das muß ein Kosename sein.“
    Ja, das ist allerdings ein Kosename. Er stammt aus dem ersten Band meiner ‚Erzgebirgischen Dorfgeschichten‘. Da kommt ein ‚ Musterbergle ‘, ein ‚ Musterdörfle ‘, ein ‚ Mustergärtle ‘ und ein ‚Musterhäusle‘ vor, in dem das ‚Herzle‘ mit ihrer Mutter wohnt. Dieses ‚Herzle‘ ist der, wenn auch nicht körperliche, aber doch seelische Abglanz meiner Frau, und wenn ich das Porträt, indem ich an ihm arbeitete, so liebgewann, daß ich es ‚Herzle‘ nannte, so versteht es sich wohl ganz von selbst, daß dieser Name so nach und nach auch auf das Original mit überging. Doch nicht für alle Fälle! Nämlich wenn Wolken am Himmel stehen, an denen ich aber immer nur selbst schuld bin, so sage ich ‚Klara‘. Sind diese Wolken im Verschwinden, so sage ich ‚Klärchen‘. Und sind sie weg, so sage ich ‚Herzle‘. Meine Frau aber sagt zu mir niemals anders als nur ‚Herzle‘, weil sie eben niemals Wolken macht.
    Sie hat, während die obere Etage meine Zimmer enthält, das ganze Parterre des Hauses inne. Da waltet sie als unermüdlicher, fleißiger Wirtschaftsengel, empfängt die immer zahlreicher werdenden Besuche meiner Leser und beantwortet alle die vielen Briefe, deren eigenhändige Erledigung mir selbst unmöglich ist. Vorgelesen aber werden sie mir alle, wobei sie derart zu verfahren pflegt, daß die besonders wichtigen oder besonders interessanten einstweilen beiseite gelegt und bis zum Schluß der Vorlesung aufgehoben werden.
    So auch heute. Als alles andere erledigt war, blieben zwei Sachen, die uns gleich beim ersten Blick als Besonderheiten erschienen und darum ausgeschieden worden waren, nämlich ein Brief aus Amerika und ein anthropologisches Fachblatt aus Österreich. Im letzteren war die Überschrift eines längeren Artikels durch Blaustrich hervorgehoben. Sie lautete: „Das Aussterben der indianischen Rasse in Amerika und ihr gewaltsames Verdrängen durch die Kaukasier und Chinesen.“ Ich bat das Herzle, den Artikel sogleich vorzulesen, denn ich hatte zufälligerweise Zeit dazu. Sie tat es. Der Verfasser war ein wohlbekannter, hervorragender Universitätsprofessor. Er schrieb mit großer Herzenswärme, und alles, was er über die ‚Roten‘ sagte, war nicht nur wohltuend, sondern auch gerecht. Ich hätte ihm dafür die Hand drücken mögen. Aber er beging einen Fehler, der ebenso allgemein wie unbegreiflich ist. Nämlich er verwechselte die Indianer der Vereinigten Staaten mit der ganzen Rasse, die über Nord- und Südamerika ausgebreitet liegt. Er verwechselte ferner den seelischen Schlaf der Rasse mit ihrem körperlichen Tod. Und er schien die Hauptaufgabe des Menschengeschlechts in der Entwicklung der völkerschaftlichen Sonderheit und Individualität zu suchen, nicht aber in der sich immer mehr ausbreitenden Erkenntnis, daß alle Stämme, Völker, Nationen und Rassen sich nach und nach zu vereinigen und zusammenzuschließen haben zur Bildung des einen, einzigen, großen, über alles Animalische hoch erhabenen Edelmenschen. Erst dann, wenn die Menschheit sich von innen heraus, also aus sich selbst heraus, zu dieser harmonischen, von Gott gewollten Persönlichkeit geboren hat, wird die Schöpfung des wirklichen ‚Menschen‘ vollendet sein und das Paradies sich uns, den bisher Sterblichen, von neuem öffnen.
    Der Brief aus Amerika war höchstwahrscheinlich im ‚Fernen Westen‘ zur Post gegeben worden, aber wo, das war an dem ungeöffneten Kuvert nicht zu ersehen, denn beide Seiten desselben zeigten so viele Stempel und mit der Hand geschriebene Ortsnamen, daß das alles unleserlich geworden war. Nur die Adresse hatte, wohl infolge ihrer echt indianischen Kürze, ihre ursprüngliche Deutlichkeit behalten. Sie bestand nur aus drei Wörtern und lautete:
    May. Radebeul. Germany.
    Wir öffneten den Umschlag und zogen ein
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