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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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rasch.
    »Helgoland.«
    »Ach so.«
    Das flüchtige Interesse verlosch nach einem kühlen Blick, und auch ich stand ziemlich peinlich berührt und sprachlos da. Wir! Flüchtlinge! Außer dem Stundenplan und der Tatsache, dass wir noch nicht auf unsere zerbombte Insel zurückkonnten, hatten wir nichts gemein mit den Tausenden, die man gewaltsam aus ihren Häusern vertrie b – Häuser, die Tagesreisen entfernt standen und nicht nur ein paar Seemeilen, Häuser, die sich nach jetziger Lage in einem anderen Land befanden. Flüchtlinge! Was war in meine Mutter gefahren?
    Der Junge in der Einfahrt steckte sein Buch in die Manteltasche und knöpfte diese zu. Er schien es nicht besonders eilig zu haben.
    »Wenn Sie uns jetzt freundlicherweise unsere Unterkunft zeigen würde n …?«
    Mem wies stumm in den oberen Stock und die Frau folgte ihr die Treppe hinauf. Kaum waren sie oben, fanden sich auch die anderen Hausbewohner am Fuß der Treppe ein und wir lauschten besorgt, aber Frau Kindler hatte offenbar beschlossen, sich nicht mehr blicken zu lassen, nachdem sie ihren Standpunkt deutlich gemacht hatte.
    Wir hörten, wie Mem die kleine Tour gab. »Am Ende des Flurs liegen die Räume der Hausbesitzerin Frau Kindler, die Sie bitte ab dieser markierten Stelle nicht betreten. Gleich hier wohnt Familie Bolle, drei Personen. Für Sie beide wäre da noch das jetzige Herrenzimmer gegenüber von Familie Wranitzk y … unten wohnen meine Schwiegermutter, meine beiden Kinder und ich.«
    Wir hörten ein Schweigen, das sich in die Länge zog, während die Fürstin offenbar in der Tür stand und den Raum in Augenschein nahm. Den überdimensionierten Spieltisch, die verrauchte Sitzgruppe.
    »Die Möbel werden natürlich noch entfernt«, sagte Mem, hörbar um Fröhlichkeit bemüht. »Da packen wir am besten alle mit an.«
    »Betten und ein Schrank gehören vermutlich nicht zum Paket«, erwiderte die Fürstin ironisch. »Aber es wird gehen. Ich weiß«, fügte sie versöhnlicher hinzu, »Sie können nichts dafür.«
    »Wir haben hier alle unsere festen Zeiten in der Küche«, sagte Mem.
    »Immerhin!«, meinte die Fürstin.
    An der Haustür gab es eine Bewegung und auf einmal stand der Sohn mit dem Koffer direkt hinter mir. »Lass mich mal durch«, befahl er und ich trat verdutzt beiseite. Der Koffer schien schwerer zu sein, als er ausgesehen hatte, denn er schlug hart gegen seine Beine, während er ihn treppauf hievte. Ich hörte das Schmatzen der nassen, schmutzstarrenden Lappen, die seine Schuhe zusammenhielten und mit jedem leisen »Twtsch« eine Pfütze auf den Stufen hinterließen.
    Und dann waren sie im Zimmer und die Tür hinter ihnen zu, und Mem kam die Treppe hinunter und sagte ganz erschrocken: »Ich hab nicht mal gefragt, wie sie heißen.«
    Das war meine erste Begegnung mit Wim Wollank, gegen Ende des ersten Winters in der kalten, gefährlichen neuen Zeit, die sie Frieden nannten.
    Wir seien Privilegierte, meinte meine Mutter. Wir wohnten in einem unversehrten Haus, obwohl halb Hamburg in Trümmern lag, wir hätten Zugang zu einer Küche und einer Toilette. Unsere Matratzen lägen unter einem soliden Dach, während es bei vielen unserer ehemaligen Nachbarn durch die Wände einer Nissenhütte oder eines Hühnerstalls zog. Wir seien Privilegierte, weil wir noch in der Lage seien zu teilen.
    Meine Mutter redete vom Glück, seit wir auf dem Festland angekommen waren: vom Glück, den Großangriff auf unsere Insel überlebt zu haben, vom Glück wegen der Tiefflieger, die die Dampfer während der Evakuierung angegriffen hatten. Kreischend waren Frauen und Kinder vom Oberdeck nach unten gestürmt und gefallen, Koffer polterten die Treppe hinab, es gab Knochenbrüche zu verarzte n – wir aber hatten Glück, denn wir waren ja bereits unten gewesen!
    Unser nächstes Glück war, einen Platz an der Wand zu bekommen und nicht mitten im Getümmel der Nachbarn, fremden Flüchtlinge und Verwundeten zu liegen, die in der Turnhalle in Pinneberg auf dem blanken Boden campierten. Glück war danach, nur drei Tage und Nächte an dieser Wand lehnen zu müssen und zweimal von Rotkreuzhelferinnen mit Suppe versorgt zu werden.
    Aber was dann kam, war das größte Glück überhaupt: Der Sohn von Frau Kindler tauchte auf. Frau Kindler war vor dem Krieg zwanzig Jahre lang Sommergast in Ootis Pension gewesen, und seit sie ihren Sohn losgeschickt hatte, um uns in ihr Haus zu holen, war meine Mutter restlos davon überzeugt, dass wir das Glück abonniert
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