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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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fehlte die Scheibe und zwei Lederzügel hingen heraus, deren Enden lose um das Steuer gewickelt waren. Die anderen Enden der Zügel hingen an einem Pferd.
    Unser Staunen kommentierte Herr Kindler mit: »Es gibt kein Benzin mehr, Kinder.« Wahrscheinlich glaubte er, auf der Insel hätten wir fernab aller Nachrichten gelebt. Ooti musste ihn erst einmal aufklären: »Henry und Alice haben noch nie ein Pferd gesehen, Leo.«
    Was Hektor, Herrn Kindlers Brauereipferd, betraf, gab es offenbar nichts, was er noch nie gesehen hatte. Von Panzern und Kübelwagen, die uns auf der Landstraße entweder noch entgegenkamen oder schon zerschossen im Weg lagen, ließ er sich ebenso wenig beeindrucken wie von Fußgängern mit Bündeln und Bollerwagen, die ihm hinter dem Stadtschild mit der Aufschrift Hamburg vor die Hufe stolperten. Selbst als wir an einer brennenden Häuserzeile vorbeikamen, die zu löschen sich niemand mehr die Mühe machte, weil es bis zum nächsten Fliegeralarm ohnehin nicht lange dauern würde, änderte sich der gemütliche Rhythmus, in dem Hektors dickes Hinterteil vor uns herschaukelte, nicht für einen Augenblick. Einziges Zeichen seiner Unruhe war das empörte Hin- und Herschlagen seines auf Armeslänge gekappten, etwas albern aussehenden Schweifs, als wollte er am liebsten kurzen Prozess machen und die Hindernisse von der Straße wischen.
    Unsere Begrüßung hatte aus einer Warnung bestanden. Ohne Umschweife hatte Herr Kindler erklärt, die Amis seien den ganzen Tag noch nicht da gewesen und wenn wir unterwegs von einem Angriff überrascht würden, müsse er weiterfahren.
    »Unmöglich kann ich Hektor und den Wagen auf der Straße stehen lassen! Euch bleibt selbstverständlich die Möglichkeit, auszusteigen und Schutz zu suchen, aber ich werde dann nicht noch einmal zurückkehren und nach euch suchen.«
    Nicht gerade die beruhigendste Mitteilung für Leute, die eben von einem Großangriff kame n …! In meinen Gliedern spürte ich noch den Widerhall der Druckwellen, die die Felswände erschüttert hatten, und in Nase und Lunge den beißenden Gestank, der nach dem Ausfall der Belüftungsanlage in jede Ritze der Stollen gekrochen war. Ich fürchtete, nie wieder durchatmen zu können, ich probierte es seitdem immer wieder aus, aber mein Brustkorb wollte sich einfach nicht bis zum gewohnten Punkt heben.
    Hektors gelassenem Trott zuzuschauen beruhigte mic h … und würde es in Hamburg nicht ein Segen sein, aufs Durchatmen verzichten zu können? Es stank nach versengtem Holz, Ziegelstaub und Schießpulver und die ganze Umgebung verschwand in grau-gelbem Dunst, als hätte man eine verschmierte Sonnenbrille auf. Durch die offene Wagenfront wirbelten Ascheflocken zu uns herein, kratzten im Hals und brachten uns zum Husten. Das wunderte Herrn Kindler nicht, schließlich seien wir »neu hier und noch nicht daran gewöhnt«.
    Hieß das, es wurde mit der Zeit besse r …? Schuttberge und Trümmerhaufen reichten bis zum Horizont, wie hingestreut ragten die Gerippe verkohlter Häuser dazwischen auf, die niemanden mehr beherbergten, nur noch Rahmen waren für schwarze, ins Leere starrende Fensterhöhlen. Einzelne, dem Feuer entkommene Bäume reckten anklagend ihre zersplitterten Äste empor und was ich im ersten Augenblick für das Rauschen eines Baches gehalten hatte, stellte sich als das Rieseln glucksenden Löschwassers heraus. In frei geschaufelten Kellerlöchern steckten Ofenrohre und bliesen Rauchfahnen in die Luft.
    Nur die Hauptstraße war noch erkennbar und notdürftig geräumt, und über diese schleppte sich im Schritttempo eine endlose Kette von Fußgängern, Fahrzeugen und dem einen oder anderen Menschen, der ein Fahrrad schob. Wir mittendrin, begleitet von gemurmelten Kommentaren wie: »Das war die Sowiesokirche.« Oder: »Erinnern Sie sich an das Sowiesotheater?« An vielen Stellen sah ich weiße Pfeile, die auf Trümmerhaufen zeigten, manche schon verwischt und vergessen. Nicht alle Stellen sahen aus, als wäre nach den dort Verschütteten auch gegraben worden.
    Von genau zwei Sätzen abgesehen, waren wir vier ganz still. Mem sagte: »Was für ein Glück, dass Sie noch das Auto haben, Herr Kindler.« Und etwas später: »Alice, kannst du bitte endlich ruhig sitzen?«
    Denn je länger wir im Pulk mitzockelten, desto klarer wurde es in meinem Kopf. Die letzten fünf Tage hatte ich, wie mir schien, in einer Art Dämmerzustand verbracht. Wenn man eine von rund dreitausend Personen ist, die gleichzeitig genau
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