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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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musste.
    Am Morgen hatte er noch aufgeblickt, als wir an ihnen vorbeikame n – hellblaue, neugierige Augen, die ich in meinem Rücken spürte, während wir die Straße hinuntergingen. Am Mittag tat er bereits, als existierten wir nicht mehr und es störte mich, da ich in der Schule an ihn gedacht hatte und ahnte, dass sie nicht mehr lange dort sitzen würden. Sie hatten einen Quartierschein, alles war vollkommen korrekt.
    Trotzdem verlangte Frau Kindler immer noch, dass Mem zum Bürgermeister ging, um zu protestieren. »Wir sind zu zwölft, ich habe drei Familien aufgenommen, drei Familien, was wollen die denn noch von mir?«, schallte es aus dem oberen Stock und ich war sicher, dass die beiden da draußen es auch hörten. »Die Gersters und die Müllers, die haben überhaupt noch niemanden, da sollen sie mal schön hingehen, sagen Sie denen das!«
    Ich hörte Mem einwenden: »Ich habe mir den Schein aber angesehen und er gilt tatsächlich für dieses Haus. Sie haben doch noch das Herrenzimmer, Frau Kindler.«
    Auwei! Henry und ich hielten die Luft an. Und da kam es auch schon: »Was erlauben Sie sich? Das ist immer noch mein Haus, und wie Sie in letzter Zeit darüber bestimmen, Frau Sievers, davon hab ich sowieso langsam genug! Aus reiner Menschenfreundlichkeit hab ich euch aufgenommen, eurer Mutter zuliebe, und wenn ihr euch einbildet, ihr wäret was Besseres als die Bolles und die Wranitzkys und hättet hier irgendetwas zu sage n …«
    Mem blieb ganz ruhig. »Ich mache nur darauf aufmerksam, dass es zwecklos ist, zum Bürgermeister zu gehen. Der kann auch nichts anderes machen als bei den Tommys Beschwerde einzulegen, und hat man je gehört, dass die sich dafür interessieren?«
    »Aber die Gersters und die Müller s …«
    »Die bekommen ihre Einquartierung, darauf können Sie sich verlassen. Die Umsiedlung aus dem Osten hat doch gerade erst begonnen.«
    Draußen tat sich was. Der Junge stand von seinem unbequemen Sitz auf dem Kofferrand auf und bot der Mutter offenbar seinen Platz an. Sie schüttelte den Kopf und streckte unter ihrem Umhang die Hand aus, um ihm kurz übers Haar zu fahren. Es war eine Geste, die trotz des Regens und ihrer nur als traurig zu bezeichnenden Lage anmutig, ja elegant wirkte, und langsam wurde ich so neugierig auf die beiden, dass ich am liebsten das Fenster einen Spalt geöffnet und gelauscht hätte. Vielleicht waren es Junker! Hatten im Osten ein großes Gut oder Schloss besessen und das Einzige, was die Gräfin oder Fürstin hatte retten können, war der deplatzierte, vornehme Umhang.
    Neben mich schob sich das schneeweiße Gesicht von Sandra Bolle. »Bei uns war es Abend, als wir reindurften.«
    Unsere Zeit in der Küche war also wieder einmal um, ohne dass wir eine warme Mahlzeit bekommen hatten. Jede Familie fand sich morgens, mittags und abends pünktlich auf die Minute in der Küche ein, und sei es nur um ihre halbe Stunde vor dem leeren Tisch zu verteidigen. Der Stundenplan hielt unser Haus zusammen. Man schaute automatisch hin, wenn man im Eingang daran vorbeiging, obwoh l – oder vielleicht gerade wei l – er sich nie änderte.
    Nun würde er sich ändern müssen! Ich sah, dass Henry bereits daran arbeitete. Mein Bruder Henry, der dreizehn und damit ein Jahr älter war als ich, war im Haus für alles zuständig, was schriftlich festgehalten werden musste.
    Oben waren sie unterdessen nicht weitergekommen. »Sollen die sich doch bei den Tommys beschweren!«, schimpfte Frau Kindler. »Denen werde ich was erzählen!«
    »Den Teufel wird sie tun«, murmelte Sandra und wir wussten genau, was sie meinte. Ein wenig Aufsehen, und wir standen alle auf der Straße. Unversehrte Häuser wie das von Frau Kindler konnten jederzeit für Angehörige der Militärregierung beschlagnahmt werden, natürlich würde sie den Mund halten und die Leute einlassen. Dass der alte Stundenplan bereits keine Gültigkeit mehr hatte, war daran zu erkennen, dass hinter Frau Bolle und Sandras Schwester Brigitte nun auch noch die Wranitzky hereinkam.
    Wenn es nicht zu unvorhersehbaren Zeiten Strom gab, waren Bolles, Wranitzkys und wir nie gemeinsam in der Küch e – außer in der ersten Woche, als es Probleme wegen der Einhaltung der Uhrzeiten gegeben hatte. Die Uhren der Wranitzkys und Bolles waren auf der Flucht abhandengekommen und es bedurfte zahlloser Auseinandersetzungen, Vorwürfe und Tränenausbrüche, bis Frau Kindler sich endlich bereit erklärte, eine ihrer beiden Wanduhren für alle sichtbar im
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