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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Flur anzubringen.
    Mem sagte: »Es ist doch auch in Ihrem Interesse, dass die Hausgemeinschaft funktioniert.« Und: »Sie geben die Uhr ja nicht ab, die Uhr würde nach wie vor in Ihrem Hause hängen.« Und schließlich: »Ich verbürge mich für die Sicherheit Ihrer Uhr, Frau Kindler.«
    Seit der Sache mit der Uhr wandten sich alle an meine Mutter, wenn es Dinge mit Frau Kindler zu regeln gab. Dass diese unsere Familie von früher kannte, nahmen sie trotzdem übel. Die Kindler und die alte Sievers hocken wieder im Herrenzimmer und trinken Tee!
    Mit dem Herrenzimmer und dem Tee- und Radiostündchen meiner Großmutter war es jetzt also vorbei. Arme Ooti, dachte ich.
    Die Wranitzky guckte Henry über die Schulter und sagte: »Nee. Wir aber nicht schon um sechs.«
    »Ich muss alles eine halbe Stunde vorverlegen«, wandte Henry ein, »und Sie wollten damals unbedingt die Ersten in der Küche sein, weil Sie dann nach vorne strecken und länger Zeit haben als wir.«
    »Wer sagt das?« Die Wranitzky war empört.
    »Niemand, aber ich dachte, das sei offensichtlich«, antwortete Henry, was der Wranitzky ein Schnauben und Sandra ein Lächeln entlockte. Dass Sandra lächelte, geschah so gut wie nie und war ein weiteres Zeichen dafür, dass dieser Tag dabei war, sich von anderen abzuheben. Sandra war siebzehn, weißblond und elfenhaft, ihre Schwester Brigitte ein Jahr älter, aber stämmig und etwas weniger hübsch. Keine von beiden sah man je ohne die andere, uns Jüngere beachteten sie nicht.
    »Er muss in die Schule«, bemerkte ich mit einem Nicken zum Gartentor. »Wenn sie erst um halb acht in die Küche können, kommt er zu spät.«
    »Stimmt.« Henry runzelte die Stirn, sichtlich irritiert, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. »Wollen Sie also um halb acht, Frau Wranitzky?«
    »Auf keinen Fall! Sechs Uhr, das haben wir doch gerade erst gesagt!«
    »Wenn es denn sein muss, würden wi r …«, murmelte Frau Bolle. »Aber nur wenn er wirklic h … vielleicht geht er gar nicht hi n … zur Schule, meine ich.«
    Henry warf ihr einen dankbaren Blick zu, radierte vorsichtig ein weiteres Mal im Stundenplan herum und versah den Namen Boll e – um halb ach t – mit einem Fragezeichen. Zumindest in der Zeile »7:00 bis 7:3 0 Uhr« hatten die beiden Neuen jetzt also Platz.
    »Ich habe meine Entscheidung getroffen!«, kam es von oben. »Ich lasse niemanden mehr herein. Wir sind ausgebucht, basta!«
    »Die störrische Alte bringt uns noch in Teufels Küche«, flüsterte Frau Bolle und schon glitzerten wieder die Schweißperlen über ihrer Oberlippe. Frau Bolles Schweißausbrüche waren ein Phänomen, das ausschließlich von Wörtern hervorgerufen wurd e – Wörter wie Suchdienst, Kalorien, Bezugsschein, und Teufel zählte offenbar auch dazu.
    Oder neuerdings Küch e …? Gerade als ich mich fragte, was der Junge da draußen wohl von uns halten würde und welche Macken er und seine Mutter in die Hausgemeinschaft mitbrachten, wurde es richtig spannend. Die Fürstin, wie ich sie bereits getauft hatte, warf den Kopf in den Nacken, schüttelte die Haube des Umhangs auf die Schultern und kam mit Schritten auf die Haustür zu, die nur als energisch zu bezeichnen waren. Ihr blondes Haar war raspelkur z – vor Kurzem geschoren, das war nur allzu klar, aber sie trug es mit Stolz und Trotz, sodass meine Schrecksekunde verstrichen war, noch bevor ich dazu kam, mir Genaueres auszumalen. Als ihr flammender Blick das Küchenfenster traf, schnappten Frau Bolle und die Wranitzky nach Luft und prallten zurück, als hätte sie jemand nackt erwischt.
    Ich schoss zur Haustür.
    Oder besser: Ich hatte das Gefühl, es zu tun. Es ist seltsam, dass so etwas immer noch passiert: dass es immer noch Momente gibt, in denen ich mein Bein einfach vergesse und das, was ich zu tun beginne, schneller ist als das, was ich tun kann. Und dann stehe ich so verblüfft und erschrocken vor mir selbst, als hätte ich erst jetzt begriffen, was los ist.
    Bis ich an der Haustür ankam, hatte die Fürstin bereits dagegengeschlagen und Mem war auf dem Weg die Treppe hinunter. Trotzdem war ich es, die öffnete. »Es reicht!«, sagte die Fürstin mit ganz leiser, zorniger Stimme und blickte über meinen Kopf hinweg zu meiner Mutter auf. »Sie hatten Zeit genug. Mein Sohn und ich kommen jetzt herein.«
    Meine Mutter kam die letzten Treppenstufen hinunter, um unten hilflos beiseitezutreten und zu murmeln: »Wir sind ja auch Flüchtlinge.«
    »Woher?«, fragte die Frau
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