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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hatten.
    »Ihr werdet sehen, Kinder«, schwor sie uns ein, »es nimmt ein gutes Ende! Wenn wir eines Tages zurückblicken, werden wir bestimmt sagen, dass alles halb so schlimm war.«
    Henry und ich waren gern bereit, ihr zu glauben, auch wenn wir sie mit ihrem Halb so schlimm aufzogen, sobald sie selbst einmal Dampf abließ. Auch wenn es nicht zu überhören war, dass sie nachts, wenn sie nicht wusste, was sie tat, mit den Zähnen knirschte!
    Denn in einem hatte Mem zweifellos Recht: Sehr vielen in der Stadt ging es schlechter als uns. Erst am Vortag hatten wir wieder jemanden am Straßenrand liegen sehen, der die Nacht nicht überlebt hatte. Zwei Frauen nahmen ihm die Hose ab, den Pullover, den dünnen Mante l … Schuhe hatte der Mann entweder nicht besessen oder es hatte sich schon ein anderer bedient.
    Henry und ich waren stehen geblieben. Der Mann konnte noch nicht lange tot sein, sein ausgemergelter Körper war noch ganz schlaff. Mit hastigen, geübten Griffen rissen ihm die Frauen die Kleidung vom Leib und ich hoffte für ihn, dass er wirklich gestorben und nicht nur zu schwach war, um zu protestieren.
    Eine der Frauen blickte auf, sah uns da stehen und warf uns ein giftiges »Verschwindet! Wir waren zuerst hier!« zu.
    Als wir mittags denselben Weg zurückgingen, war der Tote abtransportiert, und das zweifellos schon seit Stunden. Die Tommys hatten solche Angst vor der Ausbreitung von Krankheiten in ihrer Zone, dass sie manchmal noch vor den Plünderern auftauchten. Weitere Scherereien konnten sie nicht brauchen, es war mehr als genug, dass sie ihre Feinde jetzt durchfüttern mussten. Ihr Pech, dass sie uns auf der Tasche hatten! Verlieren war schlimm und verloren zu haben eine ständige Schande, aber zu siegen war offenbar auch nicht ganz so toll.
    Ob dem Mann im Sterben bewusst gewesen war, dass er vielleicht nur noch wenige Nächte hätte durchhalten müssen? Jetzt noch aufzugebe n – jetzt, wo der Winter fast vorüber war! Anfang der Woche hatte so plötzlich Tauwetter eingesetzt, dass es in einigen Landesteilen bereits zu Überschwemmungen kam. Für uns jedoch bedeutete es, dass das Schlimmste überstanden war. Das Zähneklappern unter der Bettdecke, die eingefrorenen Wasserleitunge n … vorbei! Und auch die Güterzüge mit Lebensmitteln, auf die wir den ganzen Winter gewartet hatten, würden den Norden bestimmt bald erreichen.
    »Beim nächsten Mal«, verkündete Mem grimmig, »sind wir vorbereitet. Wir werden uns um einen eigenen Garten bewerben, vielleicht sogar ein paar Hühner halten. Vor allem laufen wir nicht erst im September los, um Holzvorräte anzulegen!«
    Beim nächsten Mal? Am liebsten hätte ich protestiert. Dass es in spätestens acht Monaten einen neuen Winter geben würd e … das musste man sich doch jetzt noch nicht vorstellen!
    Zumal unser Lehrer uns erst gestern mit der Ankündigung einer Schulspeisung elektrisiert hatte. Wann genau sie beginnen würde, wusste Graber auch nicht, nur dass wir untersucht und gewogen werden sollten und dass es um eine warme Suppe pro Schultag ging. Eine wahrhaftige, warme Mahlzeit, für die wir nicht das Geringste würden tun müssen außer in der Schule zu erscheinen! Unser Glück war eindeutig dabei, sich zu wenden.
    Auch mein Vater hatte Glück. Er selbst schien dies anders zu sehen, aber vielleicht wusste er gar nicht, dass die Amerikaner auch an die Russen auslieferten. Wenn sich das noch nicht bis zu jedem belgischen Bauernhof herumgesprochen hatte, sollte es mich nicht wundern. Den Iwan schon im Nacken, hatte Foor sich im letzten Frühjahr zum Ami durchgeschlagen, weil er lieber von diesem gefangen werden wollte. Ich war stolz auf ih n – wie schlau er alles eingefädelt hatte! Dass viele Tausend Kameraden auf dieselbe Idee kommen würden, konnte er schließlich nicht wissen. Der Ami wusste sich des Ansturms nicht anders zu erwehren, als die Gefangenen auf eine Wiese am Rhein zu setzen und einen Zaun um sie zu ziehen.
    Aus Gründen, die mir nicht genauer erklärt wurden, waren in den folgenden Wochen Tausende Gefangene hinter dem Zaun gestorben, aber Foor hatte wieder Glück und war nicht darunter. Er musste einen Fragebogen mit hunderteinunddreißig Fragen ausfüllen, von dem wir in der Zukunft noch hören sollten, und nachdem sie ihn in den Zug gesetzt hatten, dachte er, es ginge nach Hause. Hätte ich an seiner Stelle auch.
    Aber Foor erkannte noch bevor der Zug ankam, dass sein Ziel nicht Deutschland war. Die Sprache, in der er am
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