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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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als ob die Haare versuchten, sich zurück in die Wurzeln zu rollen. Weil das nicht funktioniert, fängt das Herz an zu trommeln und will durch den Hals heraus, der sich daraufhin so eng zusammenschnürt, dass nicht mehr genug Luft durchgeht. Man muss dann ganz schnell aufstehen, einen bestimmten Punkt in der Ferne anpeilen und durch den weit offenen Mund atmen. Vom Prickeln bis zur Luftnot hat man etwa eine halbe Minute Zeit. Wenn es mit dem Atmen nicht klappt, muss man kotzen.
    So weit kam es nach Henrys Bemerkung natürlich nicht, aber das Prickeln spürte ich bereits ganz deutlich. »Was soll das heiße n – davor?«
    Erst im Herbst, als wir zu kalt, zu hungrig und zu müde geworden waren, um ins Freie zu gehen, hatte Henry mit dem Schreiben begonnen. Seitdem hatte sich etwas zwischen uns verändert, was ich nicht verstand, ich wagte nicht einmal darüber nachzudenken, was es war. Noch in derselben Sekunde, in der ich mich fragen hörte, was er mit Davor sagen wollte, tat es mir leid, nicht einfach den Mund gehalten zu haben.
    »Aber Alice, es ist doch klar, dass Henry über zu Hause schreiben möchte«, antwortete Mem. »Beim Schreiben kommen viele schöne Erinnerungen zurüc k – ist es nicht so, Henry?«
    »Ja«, brummte er.
    »Wenn er über zu Hause schreibt, soll er das auch sagen«, brauste ich auf. »Dann soll er es gefälligst zu Hause nennen und nicht bloß Davor! «
    »Das ist doch dasselbe. Genau das hat er doch gemeint.«
    »Sag zu Hause! «, verlangte ich. »Zu Hause! Zu Hause!«
    Henry sprang auf. »Ich verrate euch nie wieder etwas!«, rief er heftig, stopfte das Heft in die Tasche seines Mantels, den er wie wir alle wegen der Kälte auch im Haus trug, und verließ das Zimmer. Wir hörten die Haustür zuschlagen und sahen ihn am Fenster vorbei Richtung Straße stapfen.
    Wo sollte er auch sonst hin? Unsere Zeit in der Küche war erst in drei Stunden.
    »Herzlichen Glückwunsch, Alice«, seufzte Mem.
    Jetzt hätte ich ihm einfach hinterhergehen können. Immerhin hatte ich mein Ziel erreicht und ihn vor die Tür gelockt! Henry und ich stritten auch sonst ab und zu, um uns gleich darauf wieder zu vertragen; wahrscheinlich wartete er schon an der nächsten Ecke auf mich und wir konnten wieder miteinander reden, als ob nichts wäre.
    Aber worüber sollte ich mit einem Bruder reden, für den Helgoland Davor war? Am liebsten hätte ich es ihm durchs Fenster nachgeschrien: » Davor heißt, dass es nicht zurückgeht, du Idiot!«
    Doch wozu? Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Henry genau bewusst war, was er da gesagt hatte.
    Das typische Schicksal von Gerüchten, die nicht innerhalb gewisser Zeit zur Tatsache werden, ist, dass sie niemand mehr interessieren. Sie interessieren umso weniger, je öfter man sie hört. Genauso ging es mir mit dem Gerücht über Helgoland. Auf dem Dampfer, der uns evakuiert hatte, und in der Pinneberger Turnhalle hatten alle Nachbarn einander noch Mut gemacht, aber kaum waren wir von den anderen getrennt, ging es auch schon los.
    Herr Kindler hatte mit dem Wagen vor der Turnhalle gewartet, unruhig, weil es so lange gedauert hatte, bis wir endlich auftauchten. Nicht, dass wir viel zu packen gehabt hätte n – wir besaßen nur zwei Koffer, obwohl wir zu viert waren und jeder Evakuierte ein Gepäckstück hatte mitnehmen dürfen. Ich aber war als Trägerin leider ein Komplettausfall, mehr noch: Henry musste beide Hände frei haben, um mich beim Abstieg zum Hafen notfalls ein Stück huckepack nehmen zu können. (Und nein, es hilft überhaupt nichts, ein schlechtes Gewissen zu haben! So etwas gibt man am besten gleich auf oder behält es zumindest für sich, weil es für die anderen sonst kein gutes Gefühl mehr ist, zu helfen.)
    Wir brauchten an dem Tag so lange, weil es eine Ewigkeit dauerte, bis wir uns von allen verabschiedet hatten. Immer wieder mussten wir Frau Kindler s – unser e – Adresse aufschreiben. »Wenn sie noch ein Plätzchen frei hat, denk an uns, Wilma!«, hörte ich es leise sagen. Und: »Mein Henner hat ihr immer Obst verkauft! Frag, ob sie sich an Minna und Henner Friedrich erinnert!«
    Meine Mutter verließ die Turnhalle mit dem Versprechen, für rund zweihundert Helgoländer zu tun, was sie konnte. Draußen wartete ein dicklicher Herr, der seinen Hut knetete und den Blick mit solcher Intensität gen Himmel richtete, dass es aussah, als betete er. Bei unserem Anblick rannte er erleichtert um sein Auto herum und riss den Kofferraum auf. Vorne am Auto
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