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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dem knappen Befehl »You can go!« entließ, vergingen in bedrücktem Schweigen. Wahrscheinlich hatte Nora ihnen gesagt, dass wir nichts wussten.
    Als die Gemeinschaftsuhr im Hausflur Mitternacht schlug und Mem noch immer nicht ins Zimmer gekommen war, hielt ich es nicht mehr aus und ging zu ihr in die Küche. Es war eiskalt, da wir während unserer Abwesenheit nicht geheizt hatten und es sich für die wenigen Abendstunden nach unserer Rückkehr nicht mehr gelohnt hatte. Jeder hatte sich so schnell wie möglich in sein eigenes Zimmer verzogen. »Reden«, hatte Frau Kindler bestimmt, »können wir morgen.«
    »Mem, komm doch endlich ins Bett«, sagte ich in der Tür, aber sie rührte sich nicht und so ging ich hinein und setzte mich neben sie auf die Bank.
    Ich musste nicht lange warten.
    »Er hätte sowieso Schluss gemacht«, sagte sie. »Er war aus England zurück, aber hatte sich nicht gemeldet. Ich wusste gar nicht, dass er wieder da war! Wenn seine Eltern einverstanden gewesen wären, wäre er doch gleich gekommen.«
    Und etwas später: »Ich hätte es mir denken müssen. Die ganze Welt hasst uns, wer will schon eine Deutsche in der Familie haben?«
    »Was hat Herr Helmand wohl getan?«, fragte ich besorgt. »Ich meine, Herr Wollank. Was passiert jetzt mit ihm? Kommen Nora und Wim wirklich nach Kazett?«
    »Kazett sind jetzt normale Gefängnisse«, erwiderte Mem müde. »Da wird keiner mehr vergast.«
    »Vergast«, wiederholte ich erschrocken. Ich hörte das Wort zum ersten Mal, aber seltsamerweise hatte ich sofort eine Ahnung, was es bedeutete, und die Ahnung strich über meinen Nacken wie eine kalte Hand.
    Mem sagte nur: »Nicht jetzt, Alice, bitte.«
    Ooti hatte Recht gehabt. Die Wahrheit über uns musste so grauenvoll sein, dass Eltern ihren Kindern nicht einmal mehr in die Augen sehen konnten. Wenn ich mehr wissen wollte, würde ich Fremde fragen müssen.
    In den folgenden Nächten lag ich nicht nur wegen des Hungers wach. Wieder und wieder malte ich mir aus, dass Wim aus Kazett entkommen war und mich brauchte. Wo würde ich ihn verstecken? Wie konnte ich ihn versorgen? Irgendwie musste ich ihn über den Winter bringen; vielleicht hatten die Tommys bis zum Frühjahr schon aufgegeben, nach ihm zu suchen.
    Allein würde ich es nicht schaffen, so viel stand fest. Ich würde den armen Leo bitten müssen, und warum nicht? Je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir mein Plan. Gemeinsam mit dem armen Leo würde ich Wim retten!
    Ich sah sogar im Gebüsch vor dem Tommy-Zaun nach, ob er dort bereits hockte. Es schien mir undenkbar, dass Wim nicht entkommen war, nicht auf mich wartete.
    Meine Mutter musste all ihren Mut zusammennehmen, um am nächsten Morgen wie gewohnt zur Arbeit zu gehen. Sie rechnete damit, auf der Stelle entlassen zu werden, aber weder Mr s Downs noch Mr s Musgrave sprachen an, was geschehen war, und Captain Sullavan hatte sich, bis er mittags auftauchte, wieder beruhigt. Nach dem Essen kam er zu Mem in die Küche.
    »Alfred Wollank war einer der engsten Mitarbeiter von Reinhard Heydrich, Hitlers Statthalter in Böhmen und Mähren«, sagte er streng. »Er schwört Stein und Bein, dass er nicht wusste, was mit den tschechischen Juden passieren würde, aber dass die Listen über seinen Schreibtisch gegangen sind, gibt er notgedrungen zu.«
    »Listen«, echote Mem verschreckt.
    »Deportationslisten. Alfred Wollank hat den Raub des Vermögens verschleppter Juden und Tschechen abgewickelt, in Prag konnte man sich noch gut an ihn erinnern«, sagte Captain Sullavan kühl.
    »Colin, wir haben nichts gewusst, das schwöre ich.«
    »Verdammt noch mal, Wilma, redet ihr Deutschen denn nicht miteinander? Es war dein eigener Sohn, der den Mann angezeigt hat!«
    Mem verschlug es die Sprache.
    »Deine Kinder sind wohl eher zufällig darauf gestoßen«, gestand der Captain zu. »Wir haben einige Tage gebraucht, um unsere Quellen in der russischen Zone anzuzapfen und die Anschuldigungen zu überprüfen. Ein paar Stunden später und die ganze Familie wäre weg gewesen.«
    »Hat das«, fragte Mem tastend, »irgendwelche Konsequenzen für uns?«, aber Captain Sullavan tat, als habe er nicht verstanden, und erwiderte: »Nein, ihr werdet nicht belangt, ihr könnt in eurem Haus bleiben. Dafür kannst du dich bei deinem Sohn bedanken.«
    Meine Mem behielt ihre Stelle bei den Tommys. Als Captain Musgrave und seine Frau nach England zurückgingen, gestattete Mr s Downs ihr noch am selben Tag, Essensreste
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