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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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für uns mit nach Hause zu nehmen, und gleich zweimal erhielten wir über die Tommys amerikanische Carepakete mit Lebensmitteln, die uns über einen der strengsten und kältesten Winter retteten, die Deutschland je erlebt hatte.
    Aber Captain Sullavan ging nie wieder mit meiner Mutter ins Kino.
    Am Tag nachdem Wollanks verhaftet worden waren, kamen die Tommys ins Haus, um es zu durchsuchen, aber sie waren schnell wieder weg und das Einzige, das sie mitnahmen, waren die beiden Kisten mit Schwarzmarktgut, die Wim für mich dagelassen hatte.
    Die Hausbewohner umschlichen das Zimmer. Halb erwarteten noch alle, dass Nora und Wim zurückkehrten, aber zu Beginn der zweiten Woche holte sich die Wranitzky erst die Brennhex e – leihweise, wie sie beteuert e –, und danach gab es kein Halten mehr. Bolles sicherten sich die Kochkiste, Ooti und Henry, die nicht leer ausgehen wollten, schleppten eine Matratze die Treppe hinunter. Als Streit um die zweite Matratze ausbrach, hielt ich es nicht mehr aus und lief ins Freie, obwohl auch tagsüber wieder Dauerfrost herrschte und die Hamburger begonnen hatten, mit bedenklichen Mienen am Elbufer zu stehen und Ausschau nach Eisschollen zu halten.
    Ich krückte eher ziellos umher, um mich warm zu halten, und es war reine Gewohnheit, dass der Weg mich Richtung Bahnhof führte. Oder hatte ich doch für einen winzig kleinen Augenblick gehofft, dass Wim vielleicht dort war?
    Aber natürlich war er nicht da und die verwahrloste Straße mit ihren frierenden, abgerissenen Gestalten, die sich in den Schatten der Häuser drückten, war ohne ihn noch dunkler, kälter und hoffnungsloser. Nur einer freute sich, mich zu sehen, und ich wartete nicht ab, bis er fragte, ich erzählte Gustav gleich, was geschehen war.
    »Wim passiert schon nichts«, meinte er, nachdem ich geendet hatte. »Er brauchte seinen Vater nicht anzuzeigen, das ist eins der Gesetze, die die Tommys selbst mitgebracht haben. Angehörige können nicht einmal gezwungen werden auszusagen.«
    »Und Nor a …?«
    »Die tun ihr nichts. Ganz bestimmt! Es sei denn, sie hat selbst etwas verbrochen.«
    »Davon haben sie nichts gesagt«, erwiderte ich niedergeschlagen.
    »Na dann«, meinte Gustav.
    Ich verschluckte die Frage, was seiner Meinung nach mit Wims Vater passieren würde, dessen mal furchtsames, mal angriffslustiges Gesicht bereits begonnen hatte, mich in meinen Träumen zu verfolgen. Wenigstens tagsüber wollte ich mich nicht daran erinnern, welche Angst der Mann mir an den Nachmittagen gemacht hatte, als ich in Wollanks Zimmer gewesen war!
    »Hast du eigentlich etwas gehört?«, fragte Gustav plötzlich.
    Ich schüttelte den Kopf. Auch an Herrn Goldstein mochte ich kaum denken. Was hätte er dazu gesagt, dass ich Wims Vater nicht verraten hatte? Hätte er verstanden, dass ich es Wim zuliebe nicht hatte tun können? Mich gefragt, ob ich noch einmal so entscheiden würde?
    Ich hätte ihm nicht einmal eine Antwort geben können.
    »Wir sollten langsam anfangen, es übers Rote Kreuz zu probieren«, meinte Gustav.
    »Wi r …?«, wiederholte ich.
    »Klar, ich bin dabei, Herr Goldstein war schließlich mein Boss. Mach die Briefe doch mal auf, vielleicht steht etwas drin, was uns weiterbringt!«
    »Meine Ooti kennt sich aus mit Suchformularen, die könnten wir fragen!«, sagte ich, überrascht von dem Eifer, der sich, ohne dass ich es wollte, in meine Stimme schlic h – und der auch Gustav nicht entging, denn nach kurzem Zögern griff er in seine Hosentasche, kramte darin und förderte einen kleinen goldbraunen Stein zutage.
    »Ehe ich’s vergesse«, sagte er verlegen und hielt ihn mir hin.
    Es war ein Bernstein. Wie oft waren Henry und ich nach der Flut am Strand gewesen, um diese Steine zu sammeln!
    »Von Helgoland?«, vergewisserte ich mich.
    »Ich wollte ihn dir schon seit Wochen geben«, sagte Gustav verlegen.
    Ich nahm den Stein vorsichtig in die Hand. Er war noch warm von Gustavs Hosentasche. »Bevor nichts mehr übrig ist?«, fragte ich.
    »Mein Alter sagt, die Insel lässt sich gar nicht sprengen, und wenn sie noch so viel Dynamit in den Fels packen. Da bleibt immer etwas stehen.«
    »Das sagt mein Bruder auch«, erwiderte ich leise und schloss meine Hand um den kleinen, warmen, lebendigen Stein. Feine, helle Linien, Millionen Jahre alt.
    »Ich sag’s dir am besten gleich, Gustav: Ich habe nur noch ein Bein. Das halbe Linke ist aus Holz und passt nicht mehr richtig, aber ich muss gut auf die Prothese achten, weil ich erst dann
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