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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Die Gabe des Commissario Ricciardi

    Die todbringenden Hände bewegen sich ruhig im Halbdunkel.
    Sie haben keine Erinnerung an das vergossene Blut.
    Sie rühren den Leim in dem kleinen Topf auf dem Feuer, damit sich keine Klumpen bilden. Eine hält den Griff fest, die andere bewegt den Holzlöffel ganz langsam im Uhrzeigersinn; hinter dem Löffel fließt der Leim sofort wieder zusammen wie ein dickflüssiges Meer.
    Jetzt prüfen die Hände die Holzkonstruktion, kontrollieren, ob die Verbindungen stabil sind. Sie merken, dass eine Ecke nicht gut vernagelt ist, nehmen einen Hammer und klopfen die Stelle fest. Sie arbeiten genau und sorgfältig.
    Dann kehren sie zum Topf zurück, kippen ihn leicht, ohne ihn von der Flamme zu nehmen. Sie berühren das Holz der Korkeiche, schätzen sein Gewicht, erwägen die Maße der einzelnen Stücke, die Krümmung der Rinde. Sie wissen, dass die Vorbereitung des Materials und die Qualität der Bauteile am wichtigsten sind und sie sich keinen Fehler erlauben dürfen.
    Dieselben Hände, die menschliches Fleisch mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung durchtrennt haben, wenden sich nun den Figuren zu, die in einer Reihe auf dem Tisch stehen. Sie zählen sie Stück für Stück und ordnen sie dann nach ihrer Wichtigkeit. Zuerst die architektonischen Elemente: Säulen, Tempelruinen, Hütten und Häuser; weiter vorne die Gegenstände: Fleisch- und Fischstände, Wägen, Karren mit Früchten und Wurst, Stühle, Möbel; dann die Tiere: Schafe in unterschiedlichen Größen, um dem Ganzen räumliche Tiefe zu verleihen, Pferde, Kühe, Hühner, Hähne und Küken, aber auch Kamele, Elefanten, Strauße – eine bunt zu
sammengewürfelte Tierschau, deren Grenzen Erzählungen und Traditionen und nicht Kontinente und Nationen bilden. Die todbringenden Hände ordnen nun die Personen an, sorgfältig und aufmerksam: Hirten, Krämer, Dienstmädchen und Sklaven, Karten spielende Greise und alte Klatschtanten beim Austausch von Geheimnissen. Männer auf die eine Seite, Frauen auf die andere.
    Die Hände streichen über Gesichter und Gliedmaßen, suchen nach Rissen und abgesplitterten Stellen, um die Teile zu ermitteln, die neu bemalt oder ausgebessert werden müssen. Hin und wieder streifen sich die Hände; wie um einen Gedanken zu betonen, kratzen sie sich dann leicht den Rücken. Wenn auch nicht Liebe, so empfinden die Hände doch Respekt füreinander.
    Genauso konzentriert, wie sie Venen aufgetrennt und ausbluten lassen haben, wie sie entstellt und vernichtet haben, stellen die todbringenden Hände nun die fehlenden Figuren auf den Tisch. Die Heiligen Drei Könige mit ihren prunkvollen Gewändern, der exotischen Hautfarbe, den goldenen Kronen. Ihre Reittiere mit den zwei Höckern auf dem Rücken, aufgezäumt mit roten Tüchern und ledernem Geschirr. Gold, Weihrauch und Myrrhe.
    Als müssten sie sich vom Träumen abhalten, klatschen die Hände leise und wenden sich wieder dem Töpfchen mit dem Leim zu, den sie schnell umrühren. Dann kehren sie zurück zu der mittlerweile fast leeren und mit Stroh ausgelegten Schachtel. Sie nehmen einen traurig schauenden hockenden Ochsen heraus und einen ebenso großen Esel, dessen lange, behaarte Ohren sorgfältig bemalt wurden. Die beiden Tiere wandern auf den Tisch, vor den Rest des Heeres, wie zwei Hauptmänner in Erwartung des Generalstabs.
    Die todbringenden Hände, die nicht zitterten, als sie ein Leben im Gurgeln eines letzten, blutigen Atemzugs beendeten, verraten nun eine Gefühlsregung. Als wollten sie einen feierlichen Moment
ein wenig hinauszögern, rühren sie noch einmal rasch den Leim um und streichen dann kurz über Stoffe und Goldpapier. Sie ebnen die Falten des Stoffes und streichen die Ecken der blauen und gelben Papierbögen glatt, die später zu Himmel und Sternen werden sollen. Das Messer haben sie ohne Mitleid erhoben und sinken lassen und damit Herzen und Lungen durchbohrt, Träume und Gedanken ausgelöscht, doch jetzt können sie sich nicht dazu entschließen, ein letztes Mal in das Stroh der Holzkiste zu greifen.
    Schließlich nehmen die todbringenden Hände mit aller Feinfühligkeit, derer sie fähig sind, und ohne an die abgeschnittenen Leben zu denken, eine Marienfigur mit blauem Mantel und sanftem Gesicht aus dem Stroh heraus. Beide Hände halten die Figur fest, obwohl sie leicht ist wie eine Feder. Sie stellen sie vor alle anderen, in die Mitte des Tisches, weit weg von jeder Gefahr. Vor ihr, nämlich dort, wo ihr Blick hinfallen würde,
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