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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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merkt, dass man nur noch den Mittelteil weiß, oder ein Stück vom Anfang.
    Ob er und Nora es nach Südamerika geschafft hatten? Hatten sie überhaupt noch dorthin gewollt? Ich hätte alles darum gegeben, sie noch einmal zu sehen, und es fiel immer noch schwer, mir einzugestehen, dass sie nicht wiederkamen. Mich mit all meinen Fragen allein ließen! Mit allem auch, was ich ihnen gern noch erklärt hätte.
    Wäre ich schwach geworden? Hätte ich Wim gesagt, dass nicht ich seinen Vater verraten hatte? Bestimm t – obwohl es nicht zu den Dingen gehörte, auf die ich stolz war. Ich hatte begriffen, dass es Geheimnisse gibt, die man nicht für sich behalten darf; dass auch der Verräter dazugehört hätte und Henry und ich von Glück reden konnten, dass wir davongekommen waren, ohne Schaden anzurichten.
    Captain Sullavan gehörte zu einer anderen Kategorie. Captain Sullavan würde ich Foor gegenüber nie erwähnen. Ich würde nicht einmal Mem erzählen, dass ich den Captain einmal auf dem Schwarzmarkt getroffen und er mich angesprochen hatte.
    »There’s something I’ve been wanting to show you for weeks, Alice.«
    Aus seiner Brieftasche zog er das Foto einer kurzhaarigen, etwas verwittert aussehenden Dame in Gummistiefeln, die ein mageres Pferd am Zügel hielt. Das Pferd trug den äußerst seltsamen Namen »Marybell’s Precious Blossom«.
    »Sieh dir das an«, sagte er lächelnd. »Meine Schwester Alice hat es tatsächlich geschafft. Sie hat eine ihrer Stuten wiedergefunden.«
    Mein Herz verkrampfte sich in einer Mischung aus Glück, Trauer und Ohnmacht.
    »Ich werde ihr Grüße von dir ausrichten«, sagte er, bevor er mir alles Gute wünschte und weiterging, als wäre gar nichts dabei, dass er mich beim Verkauf von Kaffee und Seife ertappt hatte.
    »Wer war das?«, fragte Gustav respektvoll.
    »Ein Freund«, sagte ich. »Beinahe.«
    Seit dem Abend, an dem Mem mir gebeichtet hatte, dass es vorbei war, hatten wir beide nie wieder über den Captain geredet. Vielleicht war sie zu stolz, mich um Stillschweigen zu bitten; vielleicht vertraute sie darauf, dass ich das Richtige tat. Längst war ich zu dem Schluss gekommen, dass es für meinen Vater, auch ohne von Captain Sullavan zu wissen, schwer genug werden würde, wenn er zu uns zurückkam. Als Fremder in die eingeschworene Gemeinschaft, zu der wir über den Winter geworden waren! Hungerwinter, sagten die Deutschen, Katastrophenwinter. Die Tommys nannten ihn The Great Freeze . Winter wie dieser zählen doppelt in der Lebenszeit, und es zählt, mit wem man sie überlebt.
    Denn die gemeinsame Küch e – im Herbst, als Wim und Nora noch bei uns gewesen ware n – war nur der Anfang gewesen. Kurz nachdem Broders kamen, begannen wir unsere Aufgaben zu teilen. Morgens schwärmten wir alle aus, um mit den Lebensmittelmarken für Brot, Fett oder Gemüse vor verschiedenen Läden anzustehen. Die kleinen Wranitzkys fungierten als Boten; wenn sich herausstellte, dass es in einem der Läden etwas anderes als das Aufgerufene gab, flitzten sie los, um die entsprechenden Abschnitte der Lebensmittelkarten aus den anderen Schlangen zu tauschen.
    Auf diese Weise gelang uns immer, irgendetwas Essbares nach Hause zu bringen. Die kleinen Wranitzkys einkaufen zu lassen, war allerdings zwecklos. Im Inneren des Ladens angekommen, drängten die Erwachsenen sie rücksichtslos ab, Helmtrud wurden sogar einmal die Lebensmittelmarken eines halben Monats gestohlen. Ohne uns hätten Wranitzkys möglicherweise nicht überleb t – wie Tausende andere, die allein in Hamburg verhungert, erfroren oder an Krankheiten gestorben waren, die infolge des Mangels an Eiweiß und lebenswichtigen Vitaminen ausbrachen. Auf dem Deich in Cuxhaven konnte man, auch ohne es im Einzelnen zu wissen, den Helgoländern ansehen, wer von uns die letzten zwei Jahre in der Stadt oder auf dem Lande verbracht hatte.
    Wie hatten wir es geschafft? An manche Tage erinnerte ich mich wie durch einen Schleier. Tage, an denen man alle Kraft zusammennehmen musste, um aufzustehen, sich bei fünf, sechs, sieben Grad minus im Zimmer anzuziehen, mit Fäustlingen an den Händen einen Eisklumpen aus der Zinkwanne zu klopfen und als Koch- oder Teewasser zu erwärmen. Toilette und Wasserhahn fielen aus, die Rohre waren erst gefroren, dann gesprungen, jeden Morgen entleerten wir stinkende Nachttöpfe in eine Grube im Garten. Wasser holten wir aus einem Hydranten und die Eimer und Kanister mussten immer gleich in die Wanne geleert werden, da es
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