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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein
Autoren: Cate Tiernan
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Kapitel 1
    Clio
    Ich hörte ein leises Geräusch hinter mir und hielt inne, die Hände in meiner Segeltuchtasche vergraben. Ich wartete, sandte meine geschärften Sinne aus, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Nichts als schlafende Vögel, die Hunde aus der Nachbarschaft, Katzen, Mäuse. Und Insekten.
    Igitt.
    Ich atmete tief aus. Es war Neumond und der Friedhof noch schwärzer als gewöhnlich. Ich kniete in einer abgelegenen Ecke im Gras zwischen zwei hoch aufragenden Grüften. Mein Versteck war aus keiner Richtung einsehbar, es sei denn, man stand direkt vor mir.
    Fast Mitternacht. Morgen hatte ich Schule und wusste schon jetzt, wie mies ich mich in der Früh fühlen würde. Tja, zu dumm. Das hier war meine Chance und ich würde sie nicht vorbeiziehen lassen.
    Lautlos und schnell zog ich mit einer Handvoll Sand einen Kreis von circa eineinhalb Metern Durchmesser. In die Himmelsrichtungen weisend stellte ich im Inneren vier rote Kerzen auf. Die Farbe Rot symbolisierte Blut, Abstammung, Leidenschaft und Feuer. Ich selbst befand mich genau im Zentrum des Kreises, vor mir eine steinerne Schüssel, die mit Kohlestücken gefüllt war. Ich zündete die Kerzen an und auch die Kohle und pustete, bis sie rot glühte.
    Dann lehnte ich mich zurück, die Hände mit der Handfläche nach oben auf meinen Knien, und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Wenn Nan aufwachte und merkte, dass ich weg war, war ich Hackfleisch. Und wenn irgendjemand herausfand, was ich hier – wieder mal – tat, würde es einen Riesenaufstand geben.
    Vorletzte Nacht war ich während einer Zirkelsitzung zum Récolte-Fest von einer riesigen energetischen Woge umgeworfen worden. Meine eigene Kraft war mir genommen und von jemand anderem, von Daedalus, benutzt worden, was ich ihm immer noch sehr übel nahm. Und doch saß ich nun hier, um herauszufinden, wie in aller Welt er das angestellt hatte.
    Fast mein ganzes Leben lang hatte ich Magie, le métier, angewandt. Meinen Aufstiegsritus hatte ich noch nicht hinter mir, aber ich hatte hervorragende Lehrmeister gehabt und wusste, dass ich für mein Alter ziemlich stark war. Jahrelang hatte ich unzählige Erwachsene Magie praktizieren sehen. Doch so etwas wie bei der Récolte hatte ich noch nie erlebt.
    Wie hatte Daedalus über eine solche Kraft verfügen können? War es, weil er unsterblich war? Heute Nacht würde ich versuchen, die Quelle aufzusuchen – zumindest im Geiste. Aus irgendeinem Grund konnten ich und meine Schwester Thais in die Erinnerungen unserer Vorfahren eintauchen, eine zwölf Generationen umfassende Ahnenreihe von Hexen, die uns bis zu dem berühmt-berüchtigten Ritus zurückführte, dem ersten Ritus, bei dem die Treize unsterblich geworden und Cerise Martin ums Leben gekommen war.
    Ich hatte gesehen, was in jener Nacht passiert war. Damals war ich zu erschrocken gewesen, um das große Ganze zu erkennen. Aber jetzt war ich schlauer, jetzt verstand ich, was damals passiert war. Und nun würde ich noch herausfinden, wie es passiert war.
    Ich brachte meine kreisenden Gedanken zur Ruhe und fixierte die brennende Kohle. Feuer war mein Element, also konzentrierte ich mich ganz auf die glühende rote Hitze, fühlte, wie sie die schwere Luft erwärmte. Ich hatte verschiedene Runen in die Erde gezeichnet: ôte für Geburtsrecht und Erbe, rad für meine Reise und lage für Wissen und übersinnliche Kräfte. Ich atmete langsamer. Die Grenzen zwischen mir und dem Rest der Welt lösten sich allmählich auf und ich wurde eins mit meiner Umgebung. Mit einem Mal nahm ich jede Einzelheit um mich herum wahr: den Atem eines Grashalms, die unmerkliche Erosion eines alten, verwitterten Grabsteins aus Marmor. In Gedanken sang ich einen Zauber, einen, den ich in den letzten zwei Tagen kreiert hatte. Nach Reimen zu suchen hatte ich dabei völlig aufgegeben.
    Fesseln der Zeit, zieht mich zurück,
    Lasst mich in Erinnerung versinken,
    Folgt der roten Linie meines Blutes
    Durch die Jahrhunderte,
    Frau nach Frau, Mutter nach Mutter,
    Leben schenkend, dem Tod erliegend,
    Zurück zur ersten, Cerise Martin,
    Und zur Nacht von Melitas Stärke.
    Zeigt mir, was ich wissen muss.
    Noch nie zuvor hatte ich etwas Derartiges getan, noch nie einen so mächtigen Zauber angewandt. Außerdem beschwor ich gerade absichtlich die Erinnerung an eine Person herauf, von der ich wusste, dass sie böse war – Melita Martin, meine Ahnin. In meinen früheren Visionen jener Nacht war ich vollkommen entsetzt gewesen über das,
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