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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Moskau, im Jahre 1564 …
    Durch den Kreml-Palast gellten laute Schreie. Sie brachen sich an den dicken Steinwänden und verloren sich in den dämmrigen Gängen und den gruftähnlichen Zimmern und Sälen.
    Die Türsteher an den niedrigen Eingängen, durch die man nur hindurchgehen konnte, wenn man demütig den Nacken beugte, diese stummen, mit über der Brust gekreuzten Armen dastehenden Leibeigenen, rührten sich nicht.
    Schreie im Kreml – wen kümmert das? Was diese Quadermauern schon gehört hatten an Flüchen und Verwünschungen, an Stöhnen und Todesröcheln, hätte sie längst morsch werden lassen müssen. Aber sie waren für die Ewigkeit gebaut, meterdick, und schluckten jeden Schall.
    Es waren zwei Frauenstimmen, die da schrien, eine helle und eine dunkle. »Einen Arzt!« schrien sie. »Holt den Arzt der Zarin …«
    Die Türsteher rührten sich nicht. Es war nicht ihre Aufgabe, Botengänge zu tun. Sie hatten wie Säulen zu stehen, Erzengel vor den Gemächern des Zaren. Aber aus den Augenwinkeln sahen sie sich an.
    Was ist, Brüderchen? fragten ihre Blicke. Einen Arzt? Ist der Zar zurückgekommen? Ist er nicht oben in Litauen? Oder in Polen?
    Man weiß es nicht, Väterchen. Der Zar ist weg, und der Zar ist da … Keiner sieht ihn kommen oder gehen. Wenn sein Schatten über Moskau fällt – merkt man es früh genug. Die Bojaren tragen den Kopf tiefer, die Kaufleute betreten bleich den Kreml, die Höflinge zittern, und die Djaki – das sind die speichelleckenden Beamten des Hofes – schrumpfen zusammen zu Zwergengröße.
    Zwei Kammerfrauen rannten durch die niedrigen Türen. Jammernd verschwanden sie in den langen, halbdunklen Gängen.
    »Die Zarin«, sagte der linke Türsteher leise. »Gestern war sie noch gesund und betrunken. Sie tanzte in ihrem Zimmer, spuckte mich an und sagte: ›Bist ein großer, strammer Kerl, du Aas!‹ Weißt du's noch?«
    »Sie ist ein wildes Weibchen, mein Söhnchen. Ich glaube, der Zar ist nicht da, und sie langweilt sich. Da wird man schnell krank. Das heiße Blut kocht über.«
    Die Kammerfrauen kamen zurück. Ihnen folgte ein großer, schlanker Mann in einem schwarzen Anzug und einer offenen Pelerine um die Schultern. Unter blondem Haar, das bis zu den Schultern reichte, blickten blaue Augen auf die beiden Türsteher, die ihre Piken vor dem Eingang kreuzten.
    »Ich bin der Arzt«, sagte der schlanke, große Mann. »Die Zarin ruft mich.«
    Die Piken blieben gekreuzt. Ausdruckslos starrten die Türsteher an dem Fremden vorbei ins Leere.
    »Laßt ihn durch, ihr Idioten!« schrie eine der Kammerfrauen. »Die Zarin ist ohnmächtig geworden. Der erhabene Zar wird euch vierteilen! Gebt den Weg frei!«
    Die Piken zuckten zurück, so wie ein Schloß aufschnappt.
    »Danke«, sagte der Mann höflich. »Merkt euch mein Gesicht, Freunde. Der Zar wird befehlen, daß ich zu allen Räumen freien Zugang habe. Ich bin Arzt. Auch für euch …« Er beugte den Kopf tief hinunter und ging durch die Tür in die Räume des Zaren. Die beiden Türsteher blickten sich wieder aus den Augenwinkeln an.
    Hast du gehört, Väterchen? besagte der Blick. Ein neuer Arzt. Ein Ausländer, man hört's an der Sprache.
    Er wird nicht lange im Palast bleiben, Söhnchen.
    Den letzten Arzt hat der erhabene Zar geblendet, ihm die Zunge herausreißen lassen und entmannt. Warum? Er hat dem Zarewitsch ein Pülverchen eingegeben, nachdem er sich erbrochen hatte. Das war nötig, aber der erhabene Zar dachte an Vergiftung. Er ist mißtrauisch geworden, unser großes Väterchen, nachdem man sein erstes Weibchen, die schöne Anastasia, mit einem Gifttrunk umgebracht hat. Überall sieht er Mord und Feinde. Gott habe Gnade mit ihm! Aber dieser neue Arzt … auch er wird nicht alt werden.
    Die Zarin Marja Temrjuka war eine Frau, von deren Schönheit man träumen konnte.
    Iwan IV. hatte sie erobert, wie man eine Festung erobert. Zuerst war sie nichts als eine Beute gewesen, eingefangen mit anderen Tausenden, die beim Fall von Kasan in die Hände der russischen Truppen geraten waren. Nach der blutigen Niederwerfung der Tataren, nach langen Belagerungen und Gemetzeln, war auch der Tscherkessenfürst Temrjuk Tscherkassky mit seiner Tochter Marja vor Iwan hingetreten. Er hatte sein Haupt gebeugt, sein Schwert dem großen Zaren vor die goldenen, bestickten Schuhe gelegt und sein Leben in die Hand des Erhabenen gegeben.
    Damals wußte jeder: Tscherkassky hatte keine Chancen, zu überleben. Vor ihm waren alle tatarischen Fürsten
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