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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein
Autoren: Cate Tiernan
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was ich gesehen hatte. Und doch wollte ich mich jetzt freiwillig ein weiteres Mal dorthin begeben. Jeder, der auch nur ansatzweise über ein kleines bisschen Vernunft verfügte, hätte mich für verrückt erklärt. Doch Wissensdurst war Teil des Hexendaseins, ein drängendes Bedürfnis danach, Antworten auf seine Fragen zu finden, eine überwältigende Sehnsucht, so viel wie möglich zu verstehen.
    Aber natürlich bestand das Hexendasein auch darin, zu akzeptieren, dass es viele, viele Fragen und Dinge gab, die niemals beantwortet und für immer unbekannt bleiben würden.
    Ich begann, mein Lied zu singen, meinen mir eigenen und einzigartigen Ruf nach Kraft. Ich sang sehr leise. Der Friedhof befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Wohngebiet, nicht weit weg von meinem eigenen Haus, und grenzte an vier enge Straßen. Jeder, der hier vorbeilief, konnte mich hören. Ein dünner Rest äußerer Wahrnehmung lenkte mich ab. Noch immer spürte ich das feuchte Gras, auf dem ich saß, und hörte das schwache Schnarren entfernter Grashüpfer.
    Vielleicht würde das hier doch nicht funktionieren. Vielleicht war ich nicht stark genug. Vielleicht hatte ich den Zauber falsch angewandt. Vielleicht sollte ich Melita um Hilfe bitten.
    Der letzte Gedanke erschreckte mich, ich blinzelte.
    Es war sonnig und ich stand inmitten eines kleinen Beets. Mit einer Hand hielt ich meine lange Schürze hoch, sodass sie eine sackartige Mulde bildete, und mit der anderen pflückte ich Tomaten hinein. Ich sah, wie sich fette grüne Tomatenwürmer über einige der Weinreben hermachten. Also hatte mein Anti-Tomatenwurm-Zauber doch nicht funktioniert. Vielleicht sollte ich Melita um Hilfe bitten.
    Doch jetzt hatte ich erst einmal genug Tomaten für Mamans Okraschotensuppe. Damit sie nicht herausfielen, raffte ich meine Schürze zusammen und lief in Richtung Küche. Meine nackten Füße spürten die warme Erde, das etwas kühlere Gras, die vielen rauen Austernschalen auf dem kleinen Weg, der zur Scheune führte.
    Mein Rücken schmerzte. Mein riesiger Bauch wölbte sich so weit nach vorne, dass ich meine Füße kaum sehen konnte. Noch zwei Monate und das Baby war auf der Welt. Maman hatte gesagt, mein Rücken würde dann nicht mehr wehtun.
    Ich hatte gehört, die Engländer blickten erbarmungslos auf Schwangere herab, die nicht verheiratet waren. Da war unser Dorf toleranter. Maman wollte, dass ich Marcel erwählte, meine eigene Familie mit ihm gründete. Doch ich zog es vor, hier in diesem Haus zu bleiben, mit Maman und meiner Schwester. Papa war schon vor langer Zeit gegangen und seitdem hatte es nur uns Frauen gegeben. Und mir gefiel es so.
    Ich lief die hölzernen Stufen nach oben ins Hinterzimmer. Wir kochten im Freien, so wie jedermann, doch unsere Küchengerätschaften behielten wir im Arbeitszimmer. Drinnen fand ich Maman und meine Schwester vor.
    »Hier.« Ich legte die Tomaten auf den Tisch und ließ mich dann auf einem Holzstuhl nieder, erleichtert, das zusätzliche Gewicht nicht länger mit mir rumzuschleppen.
    »Das Baby wird ganz schön groß, was?«, sagte meine Schwester, während sie zu dem Trinkwasserkessel ging, der auf der Bank stand. Sie schöpfte daraus, bis sie eine große Tasse gefüllt hatte, und brachte sie mir. »Arme Cerise.«
    »Danke.« Das Wasser war warm, doch gut.
    Melita kniete sich vor mich hin und legte ihre Hände auf die harte Wölbung meines Bauchs. Sie lockerte die angespannten Muskeln, ihre Bewegungen beruhigten das Baby, das gerade wach war und um sich kickte. Ein kräftiger Tritt ließ mich nach Luft schnappen. Melita lachte, als sie den deutlichen Umriss eines winzigen Fußes ausmachte.
    »Du bist voller Leben«, murmelte sie und blickte lächelnd zu mir hoch. Ihre Augen waren so schwarz wie meine grün, ihr Haar dunkel wie das von Papa.
    Ich lächelte ihr ebenfalls zu und erhaschte dann einen Blick auf Mamans Gesicht, wie sie dastand und grüne Bohnen auseinanderbrach. Sie beobachtete uns besorgt. Sie war in Sorge um mich und das Baby, um Melita und ihre Zauberei. Die Leute sagten, Melita würde schwarze Magie praktizieren, dass sie ihre Seele riskiere und dem Bösen folge. Ich glaubte ihnen nicht und wollte auch nicht weiter darüber nachdenken. Schließlich war sie meine Schwester.
    »Bist du bereit für unseren speziellen Zirkel heute Abend?«, fragte Melita, während sie begann, die Tomaten klein zu schneiden.
    Ich verzog das Gesicht. »Ich bin müde … Vielleicht bleibe ich doch zu Hause und
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