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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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I.   
S 54°49´1´´W 68°19´5´´
    Es gibt keinen schlimmeren Alptraum, als sich nicht mehr ins Wachsein retten zu können.
     
    Wir kommen zusammen, wie am Vorabend jedes Auslaufens, in einer der Spelunken Ushuaias, den Hang hinauf, den Durchlaufstraßen entrückt, wir treffen ein zu jener Tageszeit, da ein letzter Streifen Licht am tiefsten Himmel verglüht. Dichtgedrängt an einem der länglichen Holztische ist uns feierlich zumute nach einem halben Jahr Trennung, wir werden bedient von einem alten Mann, dem Gesicht nach kein Verwegener, aber eines Abschieds vertraute er mir an, es gehe ihm schon gut, wenn er nicht das Bedürfnis verspüre, sich mit einem Messer in die Hand zu stechen. Der Alte hat wenig im Angebot, doch gießt er zu kleiner Münze ein, es genügt mir, mit dem Glas in der Hand dazusitzen, umringt vom breiten Wiedersehenslächeln der Filipinos, die das fleißige Gros der Besatzung bilden. Sie emseln sich voran, mit jedem weiteren Soldtag an Bord kommen sie einem häuslichen Leben näher, dem schützenden Schatten einer Großfamilie, und legen eine erstaunliche Leichtigkeit an den Werktag. Sie werden mir ein Rätsel bleiben. Ushuaia kann ihrer Stimmung nichtsanhaben, nicht die pochenden Erinnerungen, nicht das Echo der Schlächtereien, auf dieser Frequenz sind sie taub, das ist Teil des europäischen Erbes, das sind Wundmale des weißen Mannes. Sie lassen sich durch diesen Ort treiben wie durch all die anderen geschändeten Orte auf unserer Expedition (was für ein protziges Wort aus der Liturgie der Werbeprospekte), sie scheinen kaum den Boden zu berühren, wenn sie überhaupt Land betreten. Das trennt uns, wir haben keine gemeinsame Vergangenheit: was mich lähmt, scheint sie mit Leben zu erfüllen. Ansonsten sind sie gut zu handlen , wie der Hotelmanager an Bord bis zum Überdruß verkündet (und er meint damit: viel besser als die widerspenstigen Chinesen), als hätte er sie persönlich abgerichtet, so arbeitsam so geduldig so zahm. Diese Dienstbeflissenheit würde mich stören, wäre da nicht Paulina, die gerade damit beschäftigt sein dürfte, unserer gemeinsamen Kabine eine persönliche Note zu verleihen, mit einer künstlichen Blume und einer Vielzahl von Fotografien, die ganze Verwandtenmenagerie, vorn die vielen Großmütter auf Sesseln sitzend, die in den Garten hinausgeschleppt wurden, das Rohrgeflecht an mehreren Stellen durchbrochen, aufrecht dahinter die Töchter und die Söhne, treue Söhne allesamt, außer einem, der hat sich davongestohlen, man munkelt, er hacke in einem New Yorker Restaurant Gemüse klein. Ich proste Paulinas Landsleuten zu, Mechanikern, Köchen, Bootsführern und dem Restaurantleiter Ricardo, so unscheinbar wie ein eingeschweißter Koffer, doch achtgegeben, seine Macht wird sich im Laufe der Reise ausleiben, jeder Passagier wird ihn kennenlernen und manch einer ihn wertschätzen ( Howzit Mr. Iceberger , er zeigt mir den nach oben gerichteten Daumen, stets bemüht,Mißverständnisse prophylaktisch auszuräumen). Es ist ein Anblick für die Götter, wie die Millionäre aus der nördlichen Hemisphäre vor seinem Pult Schlange stehen, bereitwillig buckeln und ihm mit zugesteckten Kuverts Dank erweisen für den begehrten Tisch, steuerbordseitig mit Logensicht auf Eisscholle und Seeleopard. Die Reichen, das habe ich in den letzten Jahren auf hoher See begriffen, sind bereit, beachtliche Summen für kleine Privilegien zu zahlen, das setzt sie ab von der Masse, das nährt Ricardos Zuversicht und finanziert den Ausbau seiner Pension in Romblon. Seeleoparden, Robben und Pinguine interessieren ihn genausowenig wie Gletscher oder Eisberge, er packt jeden günstigen Ausblick beim Schopfe, what a view, fantastic, fantastic , take your seats , er grinst breit, seine Zähne paradieren, er würde ebenso viele fantastics einsetzen, wenn es Zahlungswillige gäbe für einen Tribünenplatz bei einer Mülldeponie, unser Restaurantleiter bevorzugt allein nach Kriterien der Verkäuflichkeit. Wann immer wir im großen Kreis zusammensitzen, kokettiert er mit der blonden Walfischfrau zu seiner Linken, poliert seine running gags wie Fingernägel, one of these days hör ich mir deinen Vortrag an, wirklich, ich will die Fische verstehen, seitdem ich sie vom Restaurant aus gesehen habe, wie sie in die Luft spucken, sie seien schon sehr schön, aber wieso beautiful Beate die Wale mehr liebe als die Menschen, das frage er sich, weswegen er sich bei einem ihrer nächsten Vorträge in
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