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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen
Autoren: David Ambrose
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Lebende Legende
     
     
    Sie hob ihr Gesicht aus dem sprudelnd ablaufenden Wasser im Waschbecken und blickte in den Spiegel. Dunkle, verängstigte Augen starrten unter einem Wust blond gebleichter Haare zurück. Erneut revoltierte ihr Magen und krampfte sich zusammen. Sie beugte den Kopf über das Becken, doch das Gefühl ebbte wieder ab. Das Schlimmste war überstanden.
    Was zum Teufel war da falsch gelaufen? Gerade noch hatte sie gelacht und gescherzt, und alle hatten sich in ihrer Gegenwart wohl gefühlt. Sie war voller Selbstvertrauen und Vorfreude auf den Abend gewesen. Doch plötzlich fühlte sie sich ganz allein; Wimperntusche lief über ihre Wangen, ihr Haar war völlig zerzaust, und an der Wand prangte ein großer Rorschach-Klecks an der Stelle, wo sie ihr Glas zerschmettert hatte.
    Mit zitternden Händen zerrte sie an der Tür des Wandschranks und warf die Hälfte seines Inhalts ins Waschbecken oder auf den Fußboden. Panik stieg in ihr auf. Sie konnte das nicht finden, was sie jetzt unbedingt gebraucht hätte. Wie hatte sie so etwas nur zulassen können? Aber sie konnte wirklich nicht an alles denken! Immerhin gab es genügend Leute, die dafür bezahlt wurden, sich um sie zu kümmern. Dachten diese egoistischen Ekel eigentlich jemals an etwas anderes als an sich selbst?
    Plötzlich entdeckte sie auf der anderen Seite des Zimmers die kleine Reiseapotheke, die sie üblicherweise selbst zusammenstellte und packte. Sie war der Überzeugung gewesen, sie vergessen zu haben. Alles war so schnell gegangen. Hals über Kopf hatte sie sich direkt vom Set in den Helikopter geflüchtet, weil sie genau wusste, dass das Studio sie notfalls mit körperlicher Gewalt daran gehindert hätte. Auf dem langen Flug hatte sie zwar versucht zu schlafen, aber die trockene Luft der Klimaanlage war Gift für ihre Nasenschleimhäute und den leichten Infekt gewesen, mit dem sie sich nun schon wochenlang herumschlug. Schließlich hatte man sie quer durch Manhattan geschmuggelt und durch einen Nebeneingang hierher gebracht. Dabei hatte sie gebetet, dass die Leute, die anstelle ihres gewohnten Teams eingestellt worden waren, wenigstens in der Lage waren, ihr Make-up, die Frisur und das Kleid hinzubekommen.
    Vor allem das Kleid! Ein einziger Fehler bei diesem Kleid, und die ganze Sache würde ein Desaster.
    Ihre Finger kämpften mit dem Reißverschluss der kleinen Plastiktasche. Zwar konnte sie sich absolut nicht erinnern, sie eingepackt zu haben, aber anscheinend hatte sie es getan – Gott sei Dank. Was mochte sie enthalten? Schließlich schaffte sie es, den Reißverschluss zu öffnen, breitete den Inhalt auf dem Hocker neben der Badewanne aus und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie tatsächlich fand, wonach sie suchte.
    Die Wirkung setzte rasch ein – höchstens zwei Minuten, während derer sie gar nichts tat; weder bewegte sie sich noch dachte, hörte oder sah sie etwas. Selbst ihr Atem wurde flacher und langsamer. Diese Technik hatte sie seit vielen Jahren bis zur Perfektion geübt. Es war die Fähigkeit, alle Sinne zu verschließen und sich völlig nach innen zu kehren, bis das geschah, worauf sie wartete – dieser kleine Klick tief in ihrer Seele, der ihr sagte, dass sie ihr Versteck verlassen konnte; dass keine Gefahr mehr darin lag, herauszukommen und Verbindung mit der Welt aufzunehmen.
    Sie saß auf dem Fußboden, mit nichts anderem als ihrem Slip und einem BH bekleidet. Sie schloss die Augen und strich mit dem Zeigefinger langsam über eine imaginäre Falte in der Mitte ihrer Stirn. Langsam leerte sich ihr Kopf. Nach einiger Zeit hörte sie leise Töne, die von weit her zu kommen schienen. Sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie bemerkte, dass sie selbst es war, die summte. Dabei wiegte sie sich im Takt der einfachen Melodie.
    Was war das für ein Lied? Und der Text? Sie musste sich unbedingt an den Text erinnern. Langsam kehrte alles zurück. Sie hatte das Lied gesummt und versucht, sich an den Text zu erinnern, aber es wollte einfach nicht klappen. In ein paar Minuten musste sie auf die Bühne, um ihre Vorstellung zu geben, aber ihr fiel nicht ein einziges Wort ein. Der schlimmste Albtraum jedes Schauspielers. Kein Wunder, dass sie die Nerven verloren hatte. Niemand stand ihr zur Seite, niemand hatte sich erboten, den Text noch einmal mit ihr durchzugehen, niemand hatte ihr ein Script in die Hand gedrückt. Was zum Teufel erwartete man eigentlich von ihr? Dass sie ruhig bleiben sollte? Sie war schließlich
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