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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen
Autoren: David Ambrose
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auf einer hautfarbenen, unglaublich eng anliegenden Hülle aus zartester Seide. Man hatte sie hineinnähen müssen. Jedermann – selbst Leute, die sich ganz in ihrer Nähe aufhielten – hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie bis auf die kunstvoll arrangierten, glitzernden Stellen völlig nackt war. Sie musste ein Lächeln unterdrücken, als sie an Jacks Reaktion dachte. Sicher würde er von einem Ohr zum anderen grinsen; vermutlich würde er Bob oder einem seiner Kumpel gegenüber einen Witz reißen, um seiner Begeisterung Ausdruck zu geben. Und natürlich war das Kleid für ihn gedacht – ausschließlich für ihn. Die anderen da draußen durften gucken, aber das war es auch schon. Genau genommen handelte es sich hier um eine Privatangelegenheit.
    Sie schnippte mit dem Finger gegen das Mikrofon ganz zu ihrer Rechten, das man ihr zur Benutzung angewiesen hatte. Eigentlich gab es keinen Grund, es zu überprüfen – außer dass sie auf diese Weise einen Vorwand bekam, nach unten zu blicken, ihr Gesicht unter Kontrolle zu bringen und das Schulmädchengrinsen zu unterdrücken, das sie in ihrem Innern verbarg, wo solche Geheimnisse hingehörten.
    Jetzt war sie bereit. Sie trat einen Schritt nach rechts hinter dem dämlichen Rednerpult hervor, drehte das Mikro aus der Halterung und schenkte den Zuschauern ihr betörendstes Lächeln. Das allgemeine Gemurmel im Saal ging weiter. Überall flammten Blitzlichter auf. Als ihre Augen sich gerade an die Umgebung gewöhnt hatten und sie so gut sah, wie sie hörte, blendete irgendein Idiot sie mit einem gleißend hellen Lichtstrahl – wahrscheinlich wegen des Kleides; sicher wusste das Publikum die bessere Sicht zu schätzen. Sie hob die Hand vor die Augen. Gott sei Dank verstand der Mensch auf der Lichtbühne den Wink und blendete ein wenig ab.
    »Zeit«, sagte eine Stimme in ihrem Innern. »Ziehe sie nicht unnötig in die Länge. Fang an. Nutze den Augenblick.«
    Sie begann. Ein Wort. »Happy …« Ihre Stimme zitterte ein wenig unsicher, aber sie hatte auch nie behauptet, Sängerin zu sein. Niemand verlangte das von ihr. »… birthday to you …« Sie spürte die Menschenmenge hinter sich. Alle wollten ihr zur Seite stehen. Gleich würden alle in das Lied einfallen. Irgendwo im Hintergrund hörte sie die Band, die sich erfolglos bemühte, ihre Tonlage zu treffen und ein Tempo zu finden.
    Aber das spielte keine Rolle. Es würde klappen. Es würde funktionieren.
    Es war ihr Abend.
     
     
    Später war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Natürlich hatte alles geklappt, aber es war Jacks Abend, nicht ihrer. Irgendwann gegen Ende hatte sie sich von den Ereignissen überrollt gefühlt. Der Scheinwerfer hatte sie ganz plötzlich verlassen; das war sie nicht gewohnt. Neben der forschen Art, mit der Jack die wenigen Stufen erklommen und mühelos die Bühne übernommen hatte, kam sie sich wie ein Amateur im Schatten seiner befehlsgewohnten Professionalität vor.
    Wirklich getroffen allerdings hatte sie das Wort »natürlich«. Jacks manchmal etwas zögerliche Auftrittsweise wäre eines Schauspielers angemessen gewesen; einmal hatte sie ihm gesagt, dass er sie an Jimmy Steward erinnere. Und nun stand er da, spielte seine Rolle bis zur Perfektion, wandte sich mit diesem breiten Lächeln im Gesicht dankend zunächst der Band und dann wieder dem Publikum zu, ließ die Menge applaudieren und trampeln und dehnte den Augenblick der Ovationen aus, so lange es ihm gefiel. Irgendwann gab er ein Zeichen, dass er zu sprechen wünschte.
    »Vielen Dank … Nachdem ich in den Genuss eines derart süß und so natürlich gesungenen ›Happy Birthday‹ gekommen bin, kann ich mich getrost aus der Politik zurückziehen.«
    Es war die Art, wie er sich zwischen »süß« und »natürlich« der Band zuwandte, die den Witz erst wirklich zündete. Es wirkte wie ein Stoß in die Rippen, eine Anzüglichkeit unter Männern. »Wir wissen, worum es hier geht, was, Jungs?« Das Publikum war begeistert. Es war der größte Lacher des Abends, und er ging auf ihre Kosten. Mit diesem winzigen, perfekt platzierten, ironischen »natürlich« hatte er sich gleichzeitig bei ihr bedankt und sie wertlos erscheinen lassen.
    Auf dem Weg zurück in die Garderobe entschloss sie sich, nicht zur Party zu gehen. Sollten sie doch hinter ihrem Rücken kichern, wenn sie unbedingt wollten. Sie fühlte sich beschissen, in L.A. war noch ein Film fertig zu drehen und sie brauchte unbedingt Schlaf. Sie hatte ihre
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