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Stadt der Lügen

Stadt der Lügen

Titel: Stadt der Lügen
Autoren: David Ambrose
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diejenige, die da draußen vor tausenden Menschen stehen musste, von denen jeder Einzelne nur darauf wartete, dass sie sich zum Narren machte. Keiner von ihnen verstand den hauchdünnen Grat zwischen Triumph und Katastrophe, auf dem man sich bewegen musste, wenn man den Ruhm wert sein wollte. Doch für einen Star ging es ausschließlich um diesen Grat. Zwar behaupteten die Leute, ihr Idol zu lieben, aber sie waren niemals auf seiner Seite. Sie bezahlten dafür, einen zu sehen, hofften aber immer darauf, dass man sich einen Patzer leistete, um sich beschweren zu können und sich ausgenommen zu fühlen. Sie behaupteten, einen vögeln zu wollen, aber nichts verschaffte ihnen einen größeren Ständer als der Tod ihres Stars.
    Wie war sie jetzt auf Tod gekommen? Sie würde nicht sterben. Verdammt, sie würde es schon schaffen. Irgendwie würde sie es hinbekommen. Sie musste es nur auf ihre eigene Weise und nach eigener Zeiteinteilung tun, wie sie es immer tat, wenn sie etwas richtig machen wollte.
    Das Lied. Wenn sie sich nur an den Text dieses vermaledeiten Liedes erinnern könnte, würde alles andere schon klappen. Sie summte ein paar Noten. Es lag ihr auf der Zunge …
    Plötzlich klatschte sie in die Hände. Da war es wieder. Mit weicher Stimme, geschlossenen Augen und Lippen, die sich kaum bewegten, begann sie zu singen.
     
    Happy birthday to you,
    Happy birthday to you,
    Happy birthday, Mr President,
    Happy birthday to you …
     
     
    In den Kulissen zu warten war tödlich. Der Spinner dort draußen verbockte ständig seinen Text und riss obendrein dämliche Witze über sie. Genau genommen hatte sie Lawford nie wirklich gemocht. Zwar war sie mit ihm befreundet, aber in ihrem Geschäft bedeutete Freundschaft nichts. Man war mit jemandem befreundet, bis er einen verarschte, und dann war man eben nicht mehr befreundet – bis man sich wieder einmal brauchte. Es war Lawford gewesen, der sie Jack vorgestellt hatte, allerdings war der Vorschlag von Jack gekommen. Sie wusste es, weil er ihr einmal von seinem dringenden Wunsch, sie kennen zu lernen, erzählt hatte. Lawford brauchte nur noch anzurufen. Plötzlich hatte sie genug davon, im Dunkeln herumzustehen und dem seichten Geplapper auf der Bühne zu lauschen. Sie atmete durch, straffte ihre Schultern unter der Hermelinstola und trat hinaus in das blendende Licht. Die Menge tobte. Das tat sie zwar jedes Mal, aber auch das half ihr nicht über eine gewisse Nervosität hinweg. Je höher man gehoben wurde, desto tiefer konnte man abstürzen. Falls man abstürzte.
    »Mr President«, sagte Lawford soeben, »noch niemals in der Geschichte hatte eine Frau so viel Bedeu…« Er brach ab und betrachtete die schimmernde Erscheinung, die in ihrem langen, engen, fast völlig durchsichtigen Kleid auf ihn zukam. Leicht schwankend bewegte sie sich durch die über die Bühne huschenden Lichtkreise, während die Beleuchter versuchten, sie ins Visier zu bekommen und ihr zu folgen.
    Lawford setzte ein berufsmäßiges Lächeln auf, trat zurück und überließ ihr den Platz am Rednerpult, auf dem jede Menge Mikrofone aufgereiht waren. Das Ambiente erinnerte eher an eine Pressekonferenz als an eine Vorstellung.
    »Meine Damen und Herren«, fuhr er fort und legte den Arm um ihre Schultern. »Sie ist spät dran, aber noch quicklebendig. Hier kommt Marylin Monroe.«
    Eine Sekunde lang war sie wie gelähmt – eine Sekunde, in der die Zeit stillzustehen schien. Ein kalter Schauer jagte über ihre Seele, als ob jemand über ihr Grab gegangen wäre. Warum hatte der Schweinehund so etwas sagen müssen? Er hatte ihr einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Vermutlich hatte er es nicht mit Absicht getan, aber das machte die Sache keinesfalls besser. All die Pillen und auch der schnell noch genossene Schluck Champagner verloren ihre Wirkung. Die Welt um sie herum schien zu verschwimmen. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen. Sie befeuchtete ihre Lippen, die sich plötzlich papiertrocken anfühlten.
    Aber dann zerplatzte das Vakuum, das sie umgab, so schnell, wie es gekommen war. Die Welt kehrte in ihren Gesichtskreis zurück. Dort unten im Dunkeln wurde noch immer applaudiert und Hurra gerufen. Niemand hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Nie merkte jemand etwas. Sie zuckte die Schultern. Die Hermelinstola glitt hinunter in Lawfords Hände. Die Menge brüllte noch lauter, als sie das Kleid zu Gesicht bekam.
    Dieses Kleid – es bestand aus Pailletten und Perlen
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