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Zeit deines Lebens

Titel: Zeit deines Lebens
Autoren: Cecelia Ahern
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1 Jede Menge Geheimnisse
    Wer früh am Weihnachtsmorgen an der Zuckerstangen-Fassade einer Vorstadtsiedlung entlangschlendert, kann wohl kaum umhin wahrzunehmen, wie sehr die Häuser mit ihrem Schmuck und Geglitzer den Päckchen ähneln, die hübsch eingepackt unter den Weihnachtsbäumen drinnen in den Wohnzimmern liegen: Hier wie dort verbergen sich Geheimnisse. So wie man versucht ist, am Geschenkpapier herumzuzupfen und die Päckchen zu schütteln, würde man am liebsten durch den Spalt zwischen den Vorhängen schauen und einen Blick auf die Familie beim Bescheren erhaschen – ein eingefangener Moment, der neugierigen Blicken sonst verborgen bleibt. In der sanften, geheimnisvollen Stille, die es nur an diesem einen Morgen im Jahr gibt, stehen die Häuser für die Augen der Welt draußen da wie bemalte Zinnsoldaten: Schulter an Schulter, mit geschwellter Brust und eingezogenem Bauch schützen sie stolz das, was sich darin befindet.
    Häuser am Weihnachtsmorgen sind Schatztruhen versteckter Wahrheiten – ein Kranz an der Tür wie ein auf die Lippen gelegter Finger, heruntergelassene Jalousien wie geschlossene Augenlider. Irgendwann, zu einem nicht genauer definierbaren Zeitpunkt, dringt durch die Jalousien und zugezogenen Vorhänge ein warmer Glanz nach {8 } draußen, der Hauch einer Ahnung, dass drinnen etwas geschieht. Wie Sterne am dunklen Nachthimmel, die fürs bloße Auge einer nach dem anderen sichtbar werden, wie die winzigen Goldstückchen, die zum Vorschein kommen, wenn die Flusskiesel abgesiebt werden, so gehen auch im Halblicht der Morgendämmerung hinter den Jalousien und Vorhängen die Lichter an. Und wie der Himmel schließlich im vollen Glanz der Sterne erstrahlt, so beginnt die Straße zu erwachen, Zimmer für Zimmer, Haus für Haus.
    Am Weihnachtsmorgen senkt sich eine Atmosphäre tiefer Stille über die Welt draußen. Doch die leeren Straßen machen keine Angst, ganz im Gegenteil. Sie sind ein Inbild von Frieden und Sicherheit, und trotz der Kälte liegt gleichzeitig Wärme in der Luft. Aus vielerlei Gründen verbringen Familien diesen Tag des Jahres lieber im Haus, denn draußen ist es trüb, während sich drinnen eine Welt strahlender Farben entfaltet, in der mit solcher Inbrunst das Geschenkpapier aufgerissen wird, dass die buntschillernden Bänder, die zuvor alles zusammengehalten haben, wie im Rausch zu Boden schweben. Weihnachtsmusik und festliche Düfte erfüllen die Luft, Zimt, Gewürze und alle möglichen anderen Wohlgerüche. Überall kommt es zu spontanen Ausbrüchen von Freude, Zuneigung und Dankbarkeit, bunt und unberechenbar wie losgelassene Papierschlangen. Die Weihnachtstage sind Drinnen-Tage, keine Menschenseele treibt sich freiwillig draußen herum, alle scheinen ein Dach über dem Kopf zu haben.
    Nur die Leute, die von einem Haus in ein anderes unterwegs sind, bevölkern spärlich die Straßen. Autos fahren vor und werden ausgeladen. Aus weitgeöffneten Haustüren dringen Begrüßungsworte in die Kälte hinaus, kurze Kostproben von dem, was drinnen vor sich geht. Und während {9 } man noch dabei ist, alles in sich aufzunehmen, und sich mit dem Gefühl, man wäre hier ebenfalls eingeladen, bereitmacht, als fremder, aber dennoch gerngesehener Gast über die Schwelle zu treten, da schließt sich plötzlich die Haustür und versperrt den Zutritt zum Rest des festlichen Tages – wie eine eindringliche Erinnerung daran, dass nur die Eingeweihten dort drinnen diesen Augenblick für sich in Anspruch nehmen dürfen.
    In genau dieser Gegend mit ihren Spielzeughäuschen wandert eine einzige Seele einsam durch die Straßen. Diese Seele sieht die Schönheit der geheimnisvollen Häuserwelt nicht, nein, diese Seele hat es auf eine Auseinandersetzung abgesehen, sie möchte die Schleife lösen und das bunte Papier wegreißen, sie möchte allen zeigen, was sich hinter der Tür mit der Nummer vierundzwanzig verbirgt.
    Für uns hat es keinerlei Bedeutung, womit die Bewohner des Hauses mit der Nummer vierundzwanzig beschäftigt sind, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: In diesem Augenblick greift ein zehnmonatiges Baby, etwas verwirrt von dem grünen, blinkenden, großen Gegenstand in der Zimmerecke, der furchtbar piekst, wenn man ihn anfasst, zögernd nach der glänzenden roten Kugel, in der sich seltsam verzerrt eine vertraute Patschhand und ein zahnloser Mund spiegeln. Derweil rollt eine Zweijährige wohlig im überall herumliegenden Geschenkpapier herum, badet im Geglitzer wie ein
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