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Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt

Titel: Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
Autoren: Robin Hobb
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Spätsommer
Prolog – Die, die sich erinnert
    Wie es wohl wäre, perfekt zu sein?
    An dem Tag, an dem sie geschlüpft war, wurde sie eingefangen, bevor sie sich über den Sand in die kühle und salzige Umarmung des Meeres hatte retten können. Die, die sich erinnert, war dazu verdammt, sich mit vollkommener Klarheit an jede Einzelheit dieses Tages zu erinnern. Erinnerung war ihre einzige Funktion und der alleinige Grund für ihre Existenz. Sie war ein Gefäß für Erinnerungen. Sie erinnerte sich nicht nur an ihr eigenes Leben, sobald es sich in dem Ei herauszubilden begann, sondern auch an das Leben all derer, die vor ihr gegangen waren. All diese Erinnerungen ruhten in ihr. Vom Ei zur Schlange, vom Kokon zum Drachen und wieder zum Ei… Sie wachte über die gesamten Erinnerungen ihrer Rasse. Nicht jede Schlange war so reich beschenkt oder mit einer so schweren Verantwortung belastet worden. Nur wenige Schlangen trugen die gesamte Vergangenheit ihrer Spezies in sich, aber mehr waren auch nicht nötig.
    Am Anfang war sie perfekt gewesen, mit einem makellosen, winzigen, glatten Körper, geschmeidig und mit Schuppen bedeckt. Mit dem Eizahn auf ihrer Schnauze hatte sie sich durch die ledrige Eischale gearbeitet. Sie war jedoch erst spät geschlüpft. Die anderen aus ihrem Gelege hatten sich bereits durch Schalen und Sandhaufen gearbeitet. Sie konnte ihren gewundenen Spuren folgen. Das Meer hatte sie unaufhörlich gelockt. Jede Welle des Ozeans rief sie. Sie hatte ihre Reise begonnen, war unter der sengenden Sonne durch den trockenen Sand geglitten. Sie hatte den feuchten Geruch des Ozeans in der Nase gehabt. Die glitzernden Wellen seiner Oberfläche zogen sie unwiderstehlich an.
    Aber sie hatte ihre Reise niemals beendet.
    Die Missgestalten hatten sie gefunden. Sie hatten sie eingekreist und ihr mit den plumpen Körpern den Weg zum lockenden Ozean verstellt. Obwohl sie sich heftig wehrte, hatten sie sie aus dem Sand gehoben und in ein Becken in einer Höhle im Kliff gesteckt, das von der Flut gespeist wurde. Dort hatten sie sie festgehalten, sie nur mit toter Nahrung gefüttert und ihr nie erlaubt, frei zu schwimmen. Sie war niemals mit den anderen nach Süden gewandert, in die wärmeren Meere, wo es reichlich Nahrung gab. Deshalb hatte sie auch nicht die Größe und Stärke erreicht, die ihr ein Leben in Freiheit gewährt hätte. Dennoch wuchs sie, bis das Becken in der Höhle nur noch eine winzige Pfütze für sie war. Sie schaffte es kaum, ihre Haut und ihre Kiemen feucht zu halten. Ihre Lungen waren die ganze Zeit in ihren Windungen eingeklemmt, und das Wasser war ständig von ihren Giften und Exkrementen verunreinigt. Die Missgestalten hielten sie gefangen.
    Wie lange war sie hier eingesperrt gewesen? Sie konnte es nicht ermessen, aber sie war davon überzeugt, mehrere Generationen lang hier gefangen gehalten worden zu sein. Immer wieder hatte sie den Ruf der Wanderung verspürt. Dann überkam sie eine rastlose Energie, gefolgt von einem intensiven Verlangen, ihre eigene Spezies zu suchen. Die Giftdrüsen in ihrem Hals schwollen schmerzhaft an, so voll waren sie. In solchen Zeiten fand sie keine Ruhe, denn die Erinnerungen durchdrangen sie und wollten freigesetzt werden. Sie rutschte unruhig in ihrem kleinen Becken hin und her und schwor den Missgestalten, die sie hier gefangen hielten, ewige Rache. Dann war der Hass auf sie am schlimmsten. Wenn ihre überströmenden Drüsen das Wasser mit ihren uralten Erinnerungen durchsetzten und es von den Säften der Vergangenheit so verseucht wurde, dass ihre Kiemen sie mit ihrer eigenen Geschichte vergifteten, kamen die Missgestalten. Sie wagten sich in ihr Gefängnis, schöpften Wasser aus ihrem Becken und berauschten sich daran. Trunken prophezeiten sie sich dann gegenseitig die Zukunft, tobten und lallten unter dem Licht des vollen Mondes.
    Sie stahlen die Erinnerungen ihrer Art und versuchten so, die Zukunft zu erkennen.
    Dann hatte der Zweibeiner Wintrow Vestrit sie befreit. Er war auf die Insel der Missgestalten gekommen, um für sie die Schätze zu sammeln, die das Meer an den Strand spülte. Im Austausch dafür erwartete er von ihnen, dass sie ihm seine Zukunft voraussagten. Selbst jetzt noch schwoll ihre Mähne allein bei diesem Gedanken vor Wut giftig an. Die Missgestalten prophezeiten nur eine Zukunft, die sie aus der Vergangenheit erahnten, die sie ihr stahlen! Sie verfügten nicht über die wahre Gabe des Sehens. Denn sonst hätten sie gewusst, dass die
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