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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sonst innerhalb kürzester Zeit gefror und das Gefäß unbenutzbar machte.
    Der lange, oft spiegelglatte Weg zur Schule, um Hausaufgaben, Mittagessen und den obligatorischen Löffel Lebertran abzuholen. Das Gefühl, im eisigen Wind an der Hausmauer festzufrieren, während ich mit ein paar Stück Seife, Zigarettenschachteln oder Halbpfundpäckchen Kaffee auf Kundschaft wartete. In den Hauseingängen gab es offene Feuer, an denen man sich zwischendurch wärmen konnt e – sich selbst oder Wasser für einen Tee, der half, bei Temperaturen von mehr als zwanzig Grad minus in Bewegung zu bleiben. Seltsamerweise wurden weder Gustav noch ich je krank.
    Zu Hause sorgten wir mit geklauter Kohle, abgebrochenen Zaunlatten und abgesägten Ästen vom Gebüsch am Tommy-Zaun dafür, dass das Feuer im Ofen nicht verlosch. Manchmal passierte es doch, dann holte Mem mit unserer Petroleumlampe Feuer von Mr s Downs. Zündhölzer kosteten ein Vermögen.
    Schon im Dezember kam der Güterverkehr fast zum Erliegen, weil die Kessel der Lokomotiven einfroren oder Bahnschwellen abgesägt und verheizt wurden. Die Versorgung übers Wasser brach zusammen, als die Elbe zufror. Im Februar lag die tägliche Ration für »Normalverbraucher« in Hamburg bei 77 0 Kalorien und wer dies nicht überlebte, konnte nicht einmal beerdigt werden, weil der Boden steinhart gefror.
    Strom für private Haushalte gab es erst nachts, dann gar nicht mehr, damit der Betrieb in den Fabriken aufrechterhalten werden konnte. Viele schlossen trotzdem, während Heimkehrerzüge immer neue Hundertschaften grauer, müder Gestalten in die Stadt spuckten. Wo sollten sie arbeiten? Niemand wusste die Frage zu beantworten, zuallerletzt die Rückkehrer selbst, die man durch die Ruinen wandern sah wie irre Gespenster.
    Und der Hunger. Schwarze, schmerzende Beulen an den Knien. Säuerlicher Gestank des Körpers, nicht abzuwaschen, wie von Gift. Leerer Kopf, der mitten im Gedanken das Ende schon verliert.
    Nicht mehr daran denken. Vorbei. Wir standen auf dem Deich in Cuxhaven, es war Frühling und wir lebten noch, unsere Insel war soeben in die Luft gesprengt worde n – aber ich fühlte Wut, es war also nicht das Ende der Welt.
    Wir setzten uns in den Sand und warteten, dass irgendjemand kam und uns sagte, was nun zu tun war. Wir sahen den Erwachsenen zu, die sich stumm umarmten wie bei einer Beerdigung. Oder einer Hinrichtung, dachte ich schaudernd. Immer noch versuchte ich jeden Gedanken an Alfred Wollank zu vermeiden, obwohl alle im Haus überzeugt waren, dass er mit einer Gefängnisstrafe davonkam. Waren nicht selbst unter den Hauptkriegsverbrechern einige gewesen, die nicht zum Tode verurteilt worden waren? Ein paar Jahre, so die einhellige Meinung, und der Mann war wieder draußen; schließlich durften die ersten Nazi-Beamten schon wieder in den Verwaltungen sitzen. Die Tommys hatten wohl keine anderen gefunden, die die Arbeit tun konnten.
    Vom Fähranleger legte jetzt ein Boot nach dem anderen ab und hielt mit seinen Passagieren aufs offene Meer z u – Ausflugsdampfer, Fischkutter, sogar einige Segelboote sahen wir durch die Mole fahren. Wenn Wim mich je sucht, wird er mich nicht finden, dachte ich. Helgoland gibt es nicht mehr.
    »Alice, da bist du ja«, rief plötzlich Ooti und kam durch den Sand zu uns hinüber. »Vorhin lief ein Junge herum, der nach dir fragte.«
    »Was denn für ein Junge?«, fragten Leni und ich verdutzt im Chor.
    »Ein Rotschop f – niemand, den ich kannte. Er ist zum Fähranleger gegangen.«
    »Mensch, das ist Gustav!« Ich sprang so schnell auf, dass ich fast über meine Krücken fiel. »Sein Vater hat ein Boot! Der kann uns sage n …«
    Ich brach ab. Was sollte uns Gustavs Vater schon sagen? Dass die Insel verschwunden war? Nichts mehr übrig außer ein paar Felsbrocken? Selbst die Rauchwolke war jetzt nicht mehr zu sehen, trotzdem krückte ich, noch während ich dies dachte, in Richtung Alte Liebe, so schnell ich konnte.
    Ooti und Leni eilten neben mir her.
    »Gustav, ist das nicht der Junge vom Schwarzmarkt?«, keuchte Leni aufgeregt.
    Der 18 . April 1947 war ein sonniger Frühlingstag und die kleinen Trauben von Mensche n – Helgoländer und ander e –, die am Fähranleger zusammenstanden, sahen aus, als wollten sie einen Sonntagsausflug machen. Als wir ankamen, sprach sich die Nachricht gerade herum.
    »Nur die Südspitze zerstör t … Raumanlage eingestürzt, riesiger Krater darübe r … der Mönch ist weg, aber die Lange Anna steh t
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