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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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WAS ICH ERINNERE, WAS ICH SUCHE
»STEH AUF, FRIEDRICH!« – KLAR SEHEN UND DOCH HOFFEN
    Am Morgen des 21.August 1968 weckte mich mein Vater früh um sechs mit dem waschwasserkalten Satz: »Friedrich, steh auf! Die Russen sind in Prag einmarschiert.«
    Ich schreckte auf, fiel aber wie gelähmt in mich zurück. Was hatte Vater gesagt? Für ein paar Sekunden bestand ich darauf, geträumt und etwas falsch verstanden zu haben. Ich hatte nichts falsch verstanden und nicht geträumt. Mir kam die Inschrift auf dem Tor zur Hölle in den Sinn: »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« (Dante)
    Erst einen Tag zuvor war ich aus Prag gekommen, um am 22. August – meinem Tauftag – den Gottesdienst zur Silberhochzeit meiner Eltern zu halten. Prag war in jenem Sommer die Hauptstadt eines politischen Frühlings mitten im kalten Staatssozialismus. Und nun: die Russen. Panzer, an deren rasselnde Ketten die Hoffnung gelegt war wie eine Schwerverbrecherin. In Prag war nichts an sich selbst zerbrochen, es war eine Hoffnung niedergewalzt worden. Auf den Panzern saßen junge Soldaten, die vielleicht selber nicht begriffen, was sie da taten, aber sie taten's. Befehligt wurden diese Panzer von der Angst einer bolschewistischen sowjetischen Kaderpartei, der Ruf nach Freiheit würde das System insgesamt untergraben und zum Einsturz bringen.
    Friedrich, steh auf! Vielleicht begriff ich in jenen Augusttagen erstmals, dass Wirklichkeit und Hoffnung aneinanderschlagen können wie unversöhnliche Metalle. Ich werde sein!, tönt die Hoffnung. Ich bin!, klirrt die Wirklichkeit. Unddu stehst dazwischen, suchst fiebernd den Brückenschlag. Er kommt in dem kleinen starken Wörtchen »doch« zum Ausdruck. Klar sehen und doch hoffen! Diese Maxime wurde mein Lebensmotto. Ich leitete es aus dem Denken von Albert Camus ab.
    Mit der Hoffnung, sagte Ernst Bloch, habe man nicht nur etwas zu essen, sondern auch etwas zu kochen. Sie ist Arbeit am Wirklichen. Hoffen heißt: an einen Überschuss glauben und aus solchem Vertrauen Handlungskraft gewinnen.
    Ich lebte in jenen Jahren, in die der Schock von Prag fiel, ganz im Pathos der »Theologie der Hoffnung«. In mir pochte der Satz aus dem Johannes-Brief: »Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.« (1. Joh. 3,2) Mag die Wirklichkeit den Menschen erschöpfen, seine Möglichkeiten sind es kaum. Mit Augenmaß für das Relative leben, ohne die weitgesteckten Horizonte zu verraten. Diese Spannung begriff ich mit den Jahren als eine Definition für so etwas wie Zufriedenheit. Ein Wort, das mir lange als kleinbürgerlich galt. Verriet, wer sich zufriedengab, nicht allen Sturm und Drang, alle Utopie? Nein, wer zu viel von der Welt fordert, erkrankt an ihr und an sich selber. Die Träume darf man nicht von den Gegebenheiten kappen, unter denen sie gedeihen sollen. Friedrich, steh auf! Das war der Weckruf für einen träumerischen Realismus und ein realistisches Träumen. Der graue Schein des jeweiligen Tages soll mir nicht den Sinn für ein ferneres Licht nehmen.
    … und doch hoffen! Dies ist Bekenntnis, Trotz, es klingt auch ein wenig Furcht mit, zu niederreißend sei vielleicht, was ohne jede Bemäntelung wahrgenommen werden muss. Der sehr schwarz veranlagte Heiner Müller sagte, Hoffnung sei Mangel an Information. Nein, ich behaupte den aufrechten Blick in voller Kenntnis der Dinge, aber wie gesagt: Die Realität spaßt nicht mit ihren Fakten, und es gehört Mut zur Wahrheit.Sie kann wie ein Felsblock vorm Wunsch der Hoffnung stehen, am liebsten über alles Hemmende hinwegzusehen.
    Martin Luther hob in der Heidelberger Disputation 1518 hervor: »Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Schlechte gut und das Gute schlecht. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge, wie sie wirklich sind.« (These 21) Im Unterschied zur gängigen Meinung, Theologie sei eine illusionäre Wirklichkeitsschau, ja geradezu falsches Bewusstsein, nimmt Luther sie dafür in Anspruch, schonungslos aufzuklären. Für einen evangelischen Theologen wird die Erkenntnis lebensleitend, dass die verruchte Wirklichkeit nur im Horizont des Kreuzes erträglich wird. Klar sehen – und doch hoffen!
    Der Theologe der Herrlichkeit legt einen glitzernden Schein über die Wirklichkeit. Weil er sie nicht aushält, muss er sie beschönigen, Altäre üppig vergolden – und sei es mit dem Blut unterworfener Völker Südamerikas in den Kathedralen Spaniens. Der Theologe des Kreuzes dagegen kann die Wirklichkeit in all ihrer Härte sehen, weil
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