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Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Titel: Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
Autoren: Roman Rausch
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Prolog
    »Charles Saunders.«
    Heinrich dehnte das »a« in Charles und das »au« in Saunders, als sei er Brite von Geburt an. Lässig und selbstverständlich. Sein Spiegelbild lächelte ihm dabei zu: »Charles Saunders.«
    Der Name gefiel ihm. Er gefiel ihm so gut, dass er die leise Hoffnung hegte, ihn für immer behalten zu können. Heinrich konnte sich sogar vorstellen, Saunders zu seiner einzigen und wahren Identität zu machen. Nach allen vorangegangenen fühlte er sich mit diesem neuen Ich wie in seiner eigenen Haut. Der auf alt gemachte Pass und der täuschend echt wirkende Presseausweis zeigten einen Mann in den Dreißigern mit goldumrandeter Brille und kurzen dunklen Haaren. Er war nun Charles Saunders, Reporter bei der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Die Fälscher der Staatssicherheit hatten sich wieder einmal selbst übertroffen.
    Jetzt war es so weit. Nach diesem letzten Auftrag wartete die Freiheit. Der Anruf war am frühen Morgen erfolgt. Ein einziges Wort, zweimal wiederholt, war der Code, der ihm das Versteck verriet. Am helllichten Tage in der Normannenstraße zu erscheinen wäre in diesen Tagen zu gefährlich gewesen. Die einstigen Bewacher waren nun selbst zum Ziel des Argwohns geworden. In der kleinen konspirativen Wohnung am Spreeufer hatte er die schriftlichen Instruktionen eingesehen und sie anschließend vorschriftsmäßig verbrannt. Ein Bündel englischer Pfundnoten, Bilder seiner fiktiven Familie und der Buchungsbeleg der Hotelreservierung im Westen der Stadt sollten die Legende eines Reporters im Einsatz untermauern, sofern er mit Armee- oder Polizeikräften konfrontiert werden würde. Die englische Sprache bereitete ihm keine Probleme. Als Informatikstudent im Dienste der Staatssicherheit hatte er sich im Ausland genügend darin üben können.
    Zurück in seiner Wohnung hatte er begonnen, die Befehle minuziös auszuführen. Er löschte die Festplatte seines Robotron-Rechners, vernichtete alle persönlichen Aufzeichnungen, entfernte den Namen vom Klingelschild und wischte die Wohnung nebst Geschirr und Einrichtungsgegenständen mit einem fettlösenden Tuch. Weitere Hinweise, wie Bilder, Briefe oder Urkunden, hatte es bereits vorher nicht gegeben. Am Abend existierte »Heinrich« nicht mehr.
    Charles Saunders schloss die Tür hinter sich, achtete darauf, dass ihm niemand auf der Treppe begegnete, und verließ das Haus in Richtung Normannenstraße, wo er erwartet wurde.
15. Januar 1990. Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Normannenstraße.
    Wie von Sinnen schlug der Mann auf die Überwachungskamera ein. Er saß auf den Schultern eines anderen, der keuchend die Balance zu halten suchte. Frenetisch wurde er angetrieben, bis das Augenlicht der Verbrecher auf immer erloschen war.
    »Schlag sie tot, schlag sie tot!«, schrie das eine Volk mit einer Stimme. Jung und Alt, Lehrer und Schüler, Krankenschwester und Busfahrer, Arbeiter und Privilegierter, Atheist und Katholik, Witwe und Familienvater. Sie waren belogen und betrogen, ausspioniert und erpresst, entführt, weggesperrt, gefoltert und getötet worden. Vom Nachbarn und Freund, vom Vater und von der Mutter, vom Bruder und von der Schwester, vom Ehemann und vom eigenen Kind. Nach fünfzig Jahren, einem Monat und zwei Tagen hatte sich mit dem Fall der Mauer vor wenigen Wochen ihr Traum von einer besseren und gerechteren Welt noch nicht erfüllt – so lange nicht, wie die Verbrecher im MfS noch arbeiteten.
    Dieser Januartag des neuen Jahrzehnts sollte die Befreiung und der Aufbruch in ein neues Leben sein.
    Saunders trieb in der wogenden Menge. Um ihn herum Tausende mit vor grenzenloser Wut verzerrten Fratzen und erhobenen Fäusten, fest entschlossen, die Fesseln von Bevormundung und Knechtschaft zu sprengen. Er hatte das sichere Gefühl, dass sein Auftrag mit diesem Ereignis zusammenhing. Ebenso sicher wusste er, dass sich unter dem einen Volk viele Kollegen befanden und dass er sich rasch zum verborgenen Eingang des Stasi-Gebäudes durcharbeiten musste, um nicht erkannt zu werden.
    Der letzte Hieb mit der Eisenstange riss die Kamera samt Halterung aus der Wand. An zwei Kabeln hängend, baumelte sie kopfüber herunter. Das Volk heulte auf und drängte weiter an das Stahlgittertor. Die Vordersten rüttelten und traten gegen das Gestänge.
    »Stasi raus! Stasi raus!«, hallte es durch die kalte Januarnacht. Die Ersten stiegen auf das Tor und feuerten die Menge an.
    »Macht das Tor auf!«, kam es tausendfach zurück. Blitzlichter
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